Hab’ ich nicht eigentlich die Nase voll von Schiffen? Ein bisschen schon, andererseits, wer nach Belèm will, hat kaum eine andere Wahl: Der Bus macht grosse Umwege, die „Perimetral Norte“ ist unsicher wie kaum eine andere Transamazonas-Strasse, zum einen weil die Strecke in kastrophalem Zustand ist und man nie weiss wann man ankommt. Ist die beschriebene Strasse Boa Vista – Manaus schon ein Graus - nicht nur des Reimes wegen - so soll die Nord-Querverbindung eine einzige Kraterlandschaft sein, immer wieder Thema in den Medien. Zum anderen ist sie der Abschnitt mit den meisten Busüberfällen.
Also Schiff: Billiger, schneller, sicherer!
Die „11 de Maio“ ist ein grosser Kahn aus Eisen, das sich allerdings im Laufe der Jahrzehnte gar wundersam verbeult hat - aber Eisen scheint ein Wert an sich zu sein, und so höre ich allseits, dass es ein Glück ist, mit einem solchen Schiff zu fahren.
Die „11. Mai“ legt am 10. Juli in Óbidos ab und soll zweieinhalb Tage und zwei Nächte später in Belèm ankommen. Es ist Tag und ich kann mir in Ruhe alles genau ansehen, am Interessantesten sind wie immer die Passagiere, unter ihnen diesmal auch einige wenige aus Europa, drei Norweger und zwei Norwegerinnen, die ersten Vertreter dieser Nation, die hier in diesen Breitengraden kennen zu lernen ich das nicht ganz gelungene Vergnügen habe. Sie sind seit Manaus an Bord und wirken dementsprechend abgeklärt, wir reden in drei Sprachen, allein es hätten auch fünf oder sechs sein können, ein Dialog kam nicht zustande. Mein unabweisbares Gefühl war, sie hätten den Amazonas gern für sich allein gehabt. Ich muss irgendwann weitere Norweger kennen lernen, um mein Bild über die nördlichen Nachbarn zu erweitern.
Also hielt ich mich an Geodasio (der heisst wirklich so!), einen brasilianischen Hippie, der - anders als bei den Norwegern - meine Meinung über diese Menschensorte nachhaltig positiv beeinflusst hat!
Im Prinzip ist so eine Amazonasfahrt ja langweilig, das muss einfach mal gesagt werden, man sieht im Wesentlichen nur Wasser, die Ufer wollen einfach nicht näher kommen, und wenn, hat man eine recht uniforme grüne Kulisse vor sich.
Also Zeit zu reden, zu lesen, abzuhängen und matt zu dösen. Letzteres in meinem Fall auch, um versäumten bzw. versauten Nachtschlaf nachzuholen: Dieses Mal hatte ich eine leise Brasilianerin als Nachbarin, und ich freute mich schon auf eine ebensolche Nacht, als sie sich entschloss, mit ihrem halbwüchsigen Sohn die Hängematten zu tauschen - mit verheerenden Folgen. Der Bursche trat mir mehrmals, gezielt und wie mit Absicht, in die unterschiedlichsten Körperteile, einmal sogar ins Gesicht. Dafür hatte er einen schönen Namen: Yanataio, den man, wie alles Brasilianische, allerdings hören muss. Da Ohropax, mein Allzweckschlafmittel, bei solchen nächtlichen Störungen natürlich versagt, blieb mir nur die Möglichkeit des Zurücktretens, wovon ich ausgiebig Gebrauch machte.
An Geodasio wiederum war das Einzige, das mir nicht gefiel, sein Name (im Geiste sah ich ihn immer Landschaften vermessen), ansonsten hat er mir Interessantes aus seinem Leben als fahrender Musiker erzählt, er hat wunderbar getrommelt und gesungen, mit guten Texten, und mir die richtige Verwendung von echtem Guaraná-Pulver gezeigt, das auch bei mir seine belebende und die Völkerfreundschaft (Norwegen ausgenommen) fördernde Wirkung entfaltete.
Bewundernswert die Arbeit des Schiffskochs, der immerhin für an die 200 Personen Essen zubereiten musste, in einer Kombüse (ein Wort, das sich eh schon klein anhört) minimalster Ausmasse, die durch seinen Körperumfang weiteren Raum einbüsste.
Beim Gong der Schiffsglocke wurden längs der Reling - backbords für Frauen und Kinder, steuerbords für die Männer - Holzbretter hoch geklappt. Davor wurden Bänke gestellt, auf denen dicht gedrängt die Hungernden der „11. Mai“ hockten, um zunächst die vorn angelieferten Teller bis zum letzten Mann durchzureichen, und dann, Besteck im Anschlag, die Schüsseln zu leeren, wobei die letzten, zu denen ich freiwillig gehörte, meistens den Nachschlag abwarten mussten.
Es gab stets und verlässlich Nudeln mit Fleisch und Farinha, jenes dem Brasilianer vermutlich schon in der Wiege verabreichte grobe Maniokmehl, auf das er dann sein Lebtag nicht mehr verzichten wird.
Das Fleisch war für einen Menschen aus meinen Breitengraden unkaubar, als Entschädigung faszinierte es mich anzuschauen, wie auch mit nur wenigen Zähnen ausgestattete Brasilianer es schafften, ihre Portionen bis auf die blanken Knochen zu verarbeiten.
Dafür waren die Nudeln so weich, dass ich den Verdacht nicht los wurde, sie seien stets aufs neue gekocht, da viele nach den Mahlzeiten immer wieder in die Kombüse zurück verwiesen wurden. Da habe ich sie halt gelutscht - mit der Sosse, die war das beste von allem.
Am Morgen des letzten Tages bog die „11. Mai“, jetzt schon in der Flussmündung angelangt, in einen Arm des Amazonas ein, der gleichsam den oberen Teil des unendlich verzweigten Deltas mit dem unteren verbindet. Dieser Flussarm ist wie ein Kanal, mit nun immer häufiger an beiden Ufern auftauchenden kleinen Siedlungen aus einfachsten, palmen- und bananenblattgedeckten Hütten. Je näher wir Belèm kamen, desto fester waren die Behausungen der Dörfer gebaut, erst aus stabilen Holzbrettern, dann immer häufiger aus Steinen. Es gab jetzt auch einen regen Verkehr von Schiffen aller Arten und Grössen, der einen lebhaften Eindruck davon vermittelte, dass hier das Leben sich an und auf dem Wasser abspielt.
Meine Kommentare zur Kriminalität müssen so eine Art Prophezeiung gewesen sein, die nur darauf gewartet hatte, sich self zu fullfillen:
In Belèm war es endlich so weit, im Gewimmel des riesengrossen Marktes „Ver-o-Peso“ (Achte auf´s Gewicht - es hätte für mich passender heissen sollen: „Ver-a-câmara“), mitten zwischen den Fischständen, war sie plötzlich nicht mehr da, meine Kamera. Vermutlich hatte ich sie kurz irgendwo abgelegt, was man bekanntlich nicht machen soll, und ein findiger „Folger“ nennt sie nun sein Eigen, samt 250 der (natürlich!) besten Fotos.
Ein Folger ist der Schatten, der einem folgt und alles genauestens registriert, um dann gezielt zuzuschlagen und wieder schattengleich zu verschwinden.
Ich beschloss, nicht dem wunderbaren Markt die Schuld zu geben, sondern die unerwartete Chance zu nutzen und mich fortan in die neue Rolle des Touristen ohne Kamera einzuüben.
Sagte ich einüben? Doch, in der Tat - noch nach Tagen zückte ich alle Nase lang die nicht vorhandene Kamera, um irgendwelche überaus wichtigen Fotos zu schiessen, schliesslich aber war ich froh festzustellen, dass die anfängliche, stets sich einstellende Enttäuschung einer allmählichen Erleichterung wich:
„Wie beruhigend, du brauchst kein Bild mehr mit nach Hause nehmen, es reicht hin, was deine Augen hier und jetzt aufnehmen!“ Und: „Wie erfreulich, du läufst ja sogar ohne Aussicht auf ein Foto zu der Kirche da drüben!“
Ich hatte mich schon zuvor gepäckmäßig erleichtert, die Hängematte und das Tuch hatte ich Geodasio geschenkt, einen Pullover, überflüssige T-Shirts und Unterhosen, bis auf ihrer zwei, der hoch erfreuten Gemeindeschwester von Óbidos überlassen und mich der erbärmlich ausgelatschten Sandalen kurzerhand entledigt - ja, ich war so weit gegangen, sogar die abgearbeiteten Kapitel aus dem Reiseführer jeweils zu entsorgen: Der Lohn solchen Tuns war ein immer beschwingteres Gefühl des Reisens, und das nicht nur im äußeren Sinne.
Und jetzt auch noch ohne Kamera, da ging es mir doch fast wie Hans im Glück, ein Gefühlszustand, den ich ganz ohne Tauschen erlangt hatte.
Als sei ich selber der Täter gewesen, kehrte ich mehrmals zum Ort des Verbrechens zurück, ohne Kamera war es dort ja auch viel entspannter.
An den zum Teil riesengrossen Fischen, den pacús, piraricús, dorados, surubís und wie sie alle heißen, konnte ich mich nicht satt sehen. Und satt essen! Die vielen offenen Garküchen an den Kais zogen mich magisch an, und, als legte ich es darauf an, alle Fischsorten durch zu probieren, ass ich am Ende sogar Fisch zum Frühstück.
Vielleicht hatte ich auch noch den Rat des Orthopäden aus Kempen im Kopf, der mir kurz vor Abreise zur Behandlung meiner Arthrose-Knie empfohlen hatte: “Essen Sie zweimal in der Woche Fisch!“ Nun also gleich zweimal täglich, eine leichte Überdosierung, aber ich bildete mir ein, wie auf Watte zu laufen ......
Gegen meine Kniebeschwerden hätte ich mit Sicherheit auch ein Heilmittel auf dme Kräutermarkt bekommen, wo hexengleiche Frauen Heilpflanzen, Elixiere, Salben, Wurzeln und allerlei Zaubersachen anbieten, gegen Krankheiten, die sie einem offensichtlich schon von weitem ansehen. Bei mir tippten sie so auffallend häufig auf „Allgemeine Erschöpfung“, dass ich das Original -Guaranápulver erwarb, welches ich mit Açaí-Saft mischte - leider wieder ein Fall von Überdosierung, diesmal aber mit der Folge, dass mir schlecht wurde.
Açaí: Darüber hatte ich schon geschrieben, hier in Belèm im Ver-o-Peso-Markt ist ein ganzer Abschnitt der Kaianlagen für die Anlandung dieser so beliebten Frucht reserviert. Man läuft wohl hundert Meter über Kopfsteinpflaster, dessen Rillen mit den kleinen dunkelblauen bis schwarzen Früchten angefüllt sind, die beim Transport in den eigens dafür angefertigten Flechtkörben verloren gingen. Kein Wunder, werden die offenen, randvoll mit Açaí gefüllten Körbe doch von Mann zu Mann geworfen und dann in Karren gestapelt, der geringe Schwund wird einkalkuliert. Ich hatte das Gefühl, eine Zirkusnummer zu erleben und schaute so lange in praller Sonne zu, bis ich fast einen Sonnenstich bekam.
Noch ein weiteres prächtiges Theater ist am Amazonas zu bewundern, das „Teatro da Paz“, das Theater des Friedens. 1878 im neoklassizistischen Stil erbaut, steht der mächtige Bau mit seinen imposanten Marmorsäulen am Ende von Belèms Praça da República. Dieses Mal ohne abendliche Vorstellung, dafür aber bei einer Führung, konnte ich es ebenfalls von innen bewundern, mit seinen drei Ebenen (= drei soziale Klassen!), den Spiegeln und Leuchtern aus venezianischem Kristall. Ich wünschte mich über hundert Jahre zurück in die Kautschukzeit, als Zuschauer bei einer der damaligen prachtvollen Aufführungen. Da mir dies nicht gelingen wollte, lief ich wenigstens mit nackten Füßen über die langen Flure mit ihren blank polierten, kühlen Böden aus dunkelbraunem Tropenholz.
Die gesamte Küste östlich von Belèm bis nach São Luis ist ein einziger unendlicher Strand - und nur ein Teil der insgesamt 14000 km Küste, mit welcher Brasilien gesegnet ist. Ich hatte noch nicht genug von Wasser, diesmal sollte es allerdings salzhaltig sein.
„Fahren Sie doch nach Algodoal, keine zwei Stunden mit dem Bus, und Sie sind im Paradies! Die Urlaubszeit fängt gerade erst an, da ist es noch ruhig,“ hatte mir die Führerin im Teatro da Paz so beiläufig und überzeugend geraten, dass ich keinen Augenblick zögerte, ja nicht einmal gross auf der Karte nachschaute.
Algodoal - da gefiel mir gleich der Name: Algodão heisst Baumwolle, algodoal ist das „Baumwollfeld“. Warum heisst ein Inselchen so? Ich erfuhr es bei der Ankunft mit dem kleinen Bötchen, es war genau die Jahreszeit, in welcher die Früchte der wichtigsten Inselpflanze aufspringen und, erst recht von weitem, aussehen wie die Wollknäuel der Baumwollpflanzen. Vor mir ein ganzes Feld, tatsächlich!
Die Überfahrt dauerte länger als geplant, das Fährboot mit den ersten brasilianischen Familien, die zum Inselurlaub unterwegs waren, blieb im Treibsand stecken, die Bootsmänner stiegen - braune Leiber in türkisfarbenem Wasser über weiss schimmerndem Sand - ins flache Meer und versuchten, das Schiffchen in freies Wasser zu schieben. Wir Passagiere mussten helfen, indem wir auf Zuruf den Standort auf Deck wechselten, um mehr Wasser unter den Kiel zu bekommen. Wir erfüllten die Aufgabe ernsthaft - und in bester Laune, beflügelt durch regelmässige Schlückchen aus der Rumflasche, die der Kapitän, wohl als Entschädigung für die Verzögerung der Überfahrt, kreisen liess.