Flüge über Tag sind weit unangenehmer als Nachtflüge, finde ich, die Stunden vergehen doppelt langsam, an Schlaf ist kaum zu denken. Wie anders bei einer nächtlichen Überquerung des Atlantik: Die sogenannte Mahlzeit (“Mahlzeit!”) nur leicht angegessen - ein voller Magen vergrössert ja die Qual - statt dessen vielleicht noch ein Whisky, dann das Kissen zurecht gerückt, das Ohropax bis zum Anschlag in die Gehörgänge gestopft, die Augenklappe festgezurrt - und einem ausgiebigen Schlaf steht nichts mehr im Wege. Beim Aufwachen befindet man sich schon über dem südamerikanischen Kontinent.
Der Condor, Bruder des Kranichs, startet um 15 Uhr von Frankfurt nach Porlamar auf der venezolanischen Insel Margarita - “Perle der Karibik”.
Wir werden später sehen, was von diesem Attribut zu halten ist.
Porlamar? Nie zuvor gehört! Egal, Hauptsache Venezuela, für weniger als 300.- Euro, und von dort aus ist es ja nicht mehr weit zum Hauptziel Brasilien.
Nachdem ich mich auf Sitz 26F eingerichtet habe und 26E neben mir frei bleibt, hege ich noch die Hoffnung, dies bliebe womöglich so.
Als ich jedoch den drängenden dicken Mann im Gang sehe, ist mir sofort klar: Aus der Traum, wir beide sind füreinander bestimmt!
Er weiss es schon einen Moment eher, er winkt mir ja schon mit der Bordkarte 26E, als solle ich mich auf ihn freuen.
"Dick" ist geschmeichelt, der Passagier ist unförmig, nach vorn und seitlich breit ausladend. Ich spiele den Hilfsbereiten, auch um - ich gebe es ungern zu - meine Hassanwandlungen zu bekämpfen, stelle die Sitzlehne hoch, damit er sie nicht verbiegt, und schaue erstarrten Blicks auf das Bauchgebirge, welches sich dicht vor mir aufbaut. Mein Sitznachbar wuchtet nun sein Gepäck in das Fach, sein sonderangefertigtes Hemd rutscht weit nach oben und gibt den Blick auf gedehntes Feinripp frei, mit auf dem höchsten Punkt der Wölbung weit auseinander gezogenem Muster.
Er lässt sich fallen, grusslos, er weiss um seine katastrophale Wirkung, wie oft hat er das erlebt, aber ich bemerke jetzt - zu spät - meinen Fehler:
Mit dem Hochklappen der Zwischenlehne habe ich das Eindringen in mein Territorium geradezu heraus gefordert, und mir bleibt nur der extreme Rückzug dicht an die Bordwand.
Ich habe jetzt das Gefühl, ich rutschte auf einer schrägen Fläche ihm entgegen, aber das ist wohl nur eine Sinnestäuschung.
Der Nachbar klappt umstandslos seinen Sitz nach hinten, und - kaum die Augen geschlossen - schläft er schon. Das erwartete Schnarchen bleibt dankenswerterweise aus, schön ist auch, dass die Arme angelegt und die Hände auf dem Bauch gefaltet werden und nicht weiter stören.
Im Schlafzustand schaue ich ihn mir nun näher an, meine erster Gedanke an einen Pornographen, womöglich einen Kinderschänder auf dem Flug auf die Sexinsel Margarita, weicht nun doch einer freundlicheren Einschätzung. Ich schäme mich ein wenig.
Um es kurz zu machen: Irgendwann fingen wir natürlich an zu reden, d. h. er fing an, etwas Belangloses, aber mit einer erstaunlich sympathischen Stimme, in einem Deutsch, dessen Färbung ich nicht einordnen konnte. Und wie durch ein Wunder wirkte er nun nicht mehr so massig, zumal er auch gepflegte Hände hatte mit gar nicht mal besonders kurzen und dicken Fingern, wie man sie eigentlich vermuten musste. Sein Gesicht, dem voll zuzuwenden ich mich nun zum ersten Mal traute, hatte gar einen angenehmen Ausdruck.
Nun, er war Schweiz-Venezolaner (venezo-suizo, wir wechselten hin und wieder ins Spanische), seit 45 Jahren in Venezuela ansässig, verheiratet mit einer Einheimischen, und er kam gerade von einem Besuch bei seiner Tochter in Montreux. “Montreux” sagte er öfter, mit einer besonderen Betonung, es schien ihm wichtig, dass seine Tochter in dieser vornehmen Stadt wohnte.
Aber schliesslich stammte er ja auch aus der Schokoladen- Dynastie:
Sein Vater war Einkäufer für eine bedeutende Schweizer Schokoladenfirma gewesen, über viele Jahre in Santo Domingo, wo der Schokoladenmann, “Herr Sprüngli” taufte ich ihn heimlich, das Licht der Welt erblickte und vermutlich in heisser Schokolade gebadet wurde. Die Mutter hatte sein “Paps aus Kuba geholt”, vielleicht redet man ja so als Importeur.
Herr Sprüngli war nicht aus der Art geschlagen und hatte ebenfalls sein Leben lang “in Schokolade gemacht”, wie er sich ausdrückte.
“Ich habe die besten venezolanischen Kakaosorten in die Schweiz geliefert, vor allem von der Halbinsel Paria und aus dem Orinokodelta. Vor ein paar Jahren habe ich Schluss gemacht, auch weil ich nicht mehr mit ansehen konnte, was aus diesem wunderbaren Rohstoff gemacht wird. Und das nennen die ´Schokolade´, bei euch in Deutschland ist es besonders schlimm.”
Ich pflichtete ihm bei, erwähnte die Marke “Ritter Sport” und wie sehr ich diese verabscheue, das tat Herrn Sprüngli gut.
Der Zufall wollte es, dass ich kurz vorher im Reiseführer von der alten Kakao-Hacienda Bukare gelesen hatte, auf der von ihm erwähnten Halbinsel Paria zwischen Carúpano und Rio Caribe gelegen, und ich erzählte ihm, dass ich die besuchen wolle.
“Ja sicher, machen Sie das, mit Bukare habe ich lange zusammen gearbeitet, der macht Schokolade.” Er sagte einfach “Schokolade”, ohne jedes Attribut, und auch so hatte er alle Schokoladenfälscher dieser Welt an den Pranger gestellt.
Das Schokoladenthema, erste Einstimmung auf Venezuela dank Herrn Sprüngli, war ausgereizt, ab dann hörte ich noch so manches über die schlimme Kriminalität im Lande. Ihm hatten sie einmal eine Kugel durch den Körper gejagt, “…mein Speck hat sie aufgefangen, hier rein und hinten wieder raus…”, deutete er nicht unstolz auf die Stelle vorn am Körper, und wäre nicht die Stewardess gerade vorbei gelaufen, hätte er mir das Einschussloch womöglich sogar im Original gezeigt.
Wie für vieles andere mehr, machte er auch dafür Präsident Hugo Chávez persönlich verantwortlich. Er sprach ohne Hass, einige seiner Argumente gegen Chávez´ Sozialismus konnte ich durchaus teilen. Ausserdem: Aus der Sicht des Landesbewohners war er vorläufig, ganz natürlich sozusagen, im Recht, was will man da schon besserwissen? Dass Herr Sprüngli “nur wegen dem verrückten Hund Chávez” in die Schweiz zurück will, kam mir allerdings etwas übertrieben und pathetisch vor, er war schließlich kein politisch Verfolgter.
Was der Condor noch einmal kurz vor der Landung aus seiner Bordkúche herauswürgte, fanden wir beide gleichermassen gräulich, Herr Sprüngli sprach ab da lieber von der venezolanischen Küche, neben Schokolade ganz offensichtlich Thema seines Lebens.
Porlamar, ungastlicher nächtlicher Flughafen, lange Schlangen vor der umständlichen Passkontrolle. “Das Einreiseformular sollten Sie sehr sorgfältig ausfüllen”, hatte die Flugbegleiterin schon vorgewarnt, einige auf Strandurlaub gepolte Passagiere nahmen das wohl auf die leichte Schulter, und da hockten die Armen auf dem Boden und vervollständigten ihre Formulare. Kein Tischlein, nicht die geringste Schreibfläche weit und breit. “Willkommen im Sozialismus!?” Nein, so weit wollen wir doch noch nicht gehen, das wäre unfair, man muss sich nur kurz vergewärtigen, was Ausländer manchmal bei uns in Deutschland erleben.
Der Reiseführer hatte Recht, zwar waren auch um 10 Uhr abends noch 28 Grad, aber es wehte eine wohltuende Brise. Zu Recht auch der Hinweis auf die “Taxis Piratas”, deren Name sich von selbst erklärt: Sie entern ahnungslose Passanten, die ein Taxi suchen, fahren mit ihnen in eine dunkle Nebenstrasse und rauben sie aus. Also auf das ordnungsgemässe gelbe Taxi-Nummernschild achten! So geht´s doch.
Die Fahrt führt beinahe bis zum nördlichsten Punkt der Insel, zur Playa El Agua, der Fahrer kennt die Strecke im Schlaf, und so fährt er auch, mir ist angst und bange. Aber meine in Paraguay erprobte Taktik greift auch hier:
Fahrkünste loben, sich dann als Weichei bekennen mit “deutschen Nerven”, um eine minimale Tempodrosselung bitten.
“Gracias, Usted es muy amable, ahora me siento muy bien ….” “Danke, jetzt geht´s mir schon viel besser ….”
Die Perle der Karibik erweist sich bei der nächtlichen Fahrt als ziemlich stumpf. Aber man kennt das ja: Erst mal ausschlafen, nicht ungerecht sein, am nächsten Morgen und bei Licht sieht alles schon anders aus.
Sah es aber nicht!
Natürlich sind da jede Menge Palmen, auch Wasser gibt es wie Sand am Meer, aber all das ist konsequent von Dreck und Müll durchsetzt. Was man auf den ersten Blick für eine Müllkippe halten könnte, ist meistens nichts als ein ganz normales Gelände. Nie in meinem Leben habe ich so viele leere Flaschen gesehen - manches Mal arrangiert wie bei der Documenta.
Auf den Mauern, mit denen alle Grundstücke drei Meter hoch umstellt sind, finden sie sich als Scherben wieder, damit die Einbrecher sich wenigstens die Hände aufschneiden.
Auch Herr Zubiller, mein Pensionswirt im “Margarita Hostel”, hatte sich zumauern, aus Sicherheitsgründen dazu noch ein schweres Eisentor vor seinem Eingang anbringen lassen. Bis ich da Kette und Schloss überlistet hatte, war ich schon schweissgebadet.
Ja, es stimmt, innen war es wie aussen, auch das Zimmer also bescheiden bis beschämend bis … , das Klo stank ebenso, der Ventilator ging nur, wenn das Licht an war, zum Frühstück keine Marmelade (und das mir!), nur schlaffen Käse und gewölbte Wurstscheiben - und Zubiller lief permanent besoffen herum, dann sang es in mir: “Der Biller ist schon wieder zu ....”
Aber was beschwere ich mich, ich halte es mit Max Goldt, den ich im knappen Reiselektürebestand habe, seine Beschreibung einer Kurzreise nach Malta (auch eine Insel!) mit dem Titel “Dem Elend Probesitzen” ist mir eine grosse Hilfe geworden: Wenn nichts anderes zur Verfügung steht, gilt es, das Hässliche und Armselige anzunehmen, auch als Training für späte Lebensjahre, in denen einem zumeist keine Wahlfreiheiten gelassen werden.
Und so las ich, als sei es für mich geschrieben, ich zitiere:
“ …. Hätte mich das in die Laune eines überkritischen Verbrauchers versetzen sollen? Hätte es mich überdies stören sollen, dass schon am ersten Morgen eine Scheibe Mortadella unter unserem Tisch lag?
´Guck mal, unter dem Tisch liegt hässliche, billige Wurst´, sagte ich und war vollkommen zufrieden, als der Mitreisende daraufhin entgegnete:
´Na und, auf dem Tisch liegt doch auch hässliche, billige Wurst, und, guter Mann, die essen wir jetzt!´
Alles war viel schlechter als zu Hause. Dennoch fragte ich mich in keinem Moment, warum ich mir das antat. Den ärmlichen Duschkopf zum Beispiel, aus dem nur ein einziger, kaum nudeldúnner, jedoch biedermeierlockenartig verdrehter und nach Meerwasserentsalzungsanlage schmeckender Wasserstrahl mehr krabbelte als floss. Sich so zu reinigen ist namentlich für den ein straffes, vielfädiges Beregnetwerden gewohnten Kaltduscher kein Vergnügen, insbesondere wenn er sich dabei strapaziös zur Seite biegen muss, um zu vermeiden, dass der angepilzte Duschvorhang sich haftend und saugend seines Oberarms bemächtigt.
Das Wichtigste in einem Badezimmer fehlte wieder einmal ganz, nämlich Platz, um die mitgebrachten Fläschchen und Tuben in altbewährter Ordnung aufzustellen, weswegen sie in enger Formation auf dem Toilettenspülkästchen zu arrangieren waren, und so geschickt man das auch meisterte, bei einer Betätigung des Spülknopfes klackerte alles auf den von fremder Leute Unterbauchbehaarung berieselten Boden. Egal - die Sachen aufgelesen und ohne Murren neu plaziert …..”
So weit Max Goldt. Er war mein heimlicher Reisebegleiter und Trost bei Señor Zubiller und späteren Zumutungen.
Porlamar ist übrigens nicht die Hauptstadt von La Margarita, das ist nämlich La Asunción, wie die Hauptstadt Paraguays, nur mit La davor.
Ich fahre mit einem “Porpuesto” (nach Platz), diese Sammeltaxis heissen so, weil sie theoretisch so viele Fahrgäste mitnehmen wie ihr Wagen Plätze hat, meistens aber viel mehr. Es sind in der Regel uralte Chevrolets mit Automatikgetriebe, fast alle kurz vorm Durchrosten, die in keine deutsche Garage passen würden, einen röhrenden Sound haben und mindestens 15 Liter Sprit fressen. Beim aktuellen Preis von 95 Bolívares (ca. 3,5 Eurocents) pro Liter spielt das nicht die geringste Rolle.
Kein Taxifahrer versteht, wenn man ihm erklärt: “Mein Auto in Deutschland braucht sechs Liter auf 100 km”, weil ihn diese Art der Berechnung absolut nicht interessiert, ja, man möchte sagen: am Auspuff vorbei geht.
Hier heisst es statt dessen: “Ich komme mit einer Füllung zweimal von Cumaná nach Carúpano und zurück”, oder: ”Mit einer Füllung fahre ich drei Tage…”
Schicksalsergeben sitzt man im Porpuesto, mit Wildfremden auf Tuchfühlung, manchmal stundenlang, und schweigt sich meistens an. Es geht sowieso nicht anders, denn immer dröhnt aus Lautsprechern (mit Vorliebe hinter meinem Kopf) das, was der gemeine Venezolaner für Musik hält.
Porlamar ist eine hektische, geradezu nervöse Stadt. Hier wird eingekauft, was der Geldbeutel hergibt, schliesslich ist die Insel eine Freihandelszone, und für die Venezolanos vom Festland ist Porlamar ein Stadt gewordenes Geschäft, eine ganz und gar scheussliche Verwandlung.
Nach fünf Versuchen, meinen Rucksack und das Köfferchen in einem Geschäft abzustellen, gebe ich auf. Nicht das geringste Entgegenkommen, die ständig beschworene “delincuencia”, das Verbrechertum, ist an allem Schuld.
Folglich fühle auch ich mich ab sofort unsicherer als je zuvor und entdecke in so manchem Passantengesicht ausgesprochen delinquente Züge.
Viel kleiner dagegen La Asunción, überschaubar das Zentrum mit der Plaza, mit einem Hauch kolonialen Flairs, entspannt die Atmosphäre, die sich auch hier, freilich im besten Sinne, auf mich überträgt.
Und gleich sehen alle freundlich aus, der Alte mit dem Stock hält mir einen Vortrag über seine Stadt, die Arepa-Verkáuferin schäkert mit mir, die nette Frau vom Café packt meine Sachen höchstpersönlich hinter die Theke.
Ich weiss, jeder denkt jetzt, und kennt jetzt, das Gesetz zu diesem Phänomen, vereinfacht ausgedruckt mit “Alles Einbildung!” Oder: “Gefühlte Kriminalität”.
Aber es gibt auch Objektives anzuführen:
In La Asunción wird kaum gemordet und überfallen, in Porlamar deutlich mehr, in Cumaná auf der anderen Seite heftig, und in San Felix am Orinoco massakriert sich ein ganzer Ortsteil gegenseitig fast epidemieartig (da muss ich noch “durch” auf dem Weg nach Brasilien, den Ortsnamen nenne ich schon gar nicht mehr, um mir die Schreckenskommentare zu ersparen). Die Hauptstadt Caracas schliesslich ist die Krönung des Ganzen, da kommen an jedem Wochenende im Durchschnitt 150 Tote zusammen.
(Caracas habe ich zur Strafe vom Reiseplan gestrichen).
Und man fühlt es auch wirklich! Macht es an Zeichen und Hinweisen fest, speichert ab und entwirft automatisch ein Gefahrenprofil - irgendwann werde ich mal eine neue Theorie daraus entwickeln…..
Vom “Castillo Santa Rosa” blicke ich heiter auf La Asunción, Gründung spanischer Conquistadores, und ich kann leicht die Punkte ausmachen, die ich besucht habe:
Dort das Museum, in dem wie so oft in Südamerika die Schandtaten der Conquista verharmlost, gar gepriesen werden. Hier bestand die Spezialität der Spanier im Abrichten der Indios zum Perlentauchen (mit Gold war ja nix), das Tauchgerät war billig und, wenn kaputt, leicht zu ersetzen.
An der Plaza Bolívar - wie passend - die úbliche indianische Verklärung in einem Wandmosaik der Kirche (!).
Auch das Rathaus ist gut zu erkennen. In ihm hatte ich eine überaus bürgerfreundliche Haltung auszumachen geglaubt, in merkwürdigem Kontrast dazu überall das Konterfei von Hugo Chávez, zitiert mit dem Satz: ”Der Funktionär hat dem Volk zu dienen wie ein guter Soldat, und wenn er seine Aufgaben nicht erfüllt, soll er verschwinden.”
Waren die Funktionäre vielleicht deshalb so bürgerfreundlich?
Chávez allüberall auf Tafeln, Wänden, Plakaten, Spruchbändern, ich konnte ihn nach 3 Tagen schon nicht mehr sehen (so wie es uns bei den Visagen unserer Politiker auf den Wahlplakaten ergeht, wenn die viel zu lange hängen), wie ergeht es erst den Venezolanern? Auch vor der Schule ein Riesenplakat, welches angeberisch verkündet, dass diese Anstalt sich nur der bolivarianischen Revolution eines Hugo Chávez verdankt.
Ich rede mit Schülern und Lehrerinnen, die mir sehr aufgeschlossen und freundlich begegnen. Ich kann das Lehrersein nicht lassen und frage nach der Hauptstadt von Alemania: Fehlanzeige, manche haben den Namen Berlin nicht einmal gehört.
Später strömten die Schulabgänger hinaus. Ich hatte ihren letzten Schultag erwischt und konnte ihre Freude und Ausgelassenheit mit erleben. Gegenseitig besprühten sie ihre Haare bunt und malten sich freche Sprüche auf ihre Schuluniformhemden, die sie nun nicht mehr brauchten. Den deutschen Professor klärten sie geduldig über ihr Ritual auf.
Im “Palacio Legislativo” war öffentliche Bürgeranhörung, “Audiencia Pública”. In dem mit alten Ölgemälden geschmückten Saal sassen der Bürgermeister und einige Ratsherren und lauschten geduldig einer engagierten Studentin, die als Jugendvertreterin von ihrem öffentlichen Rederecht Gebrauch machte. Und wie! So laut und so schnell habe ich selten
jemanden spanisch reden gehört, dass mir Hören und Verstehen vergingen. Sie kam etwa zehn Mal zum Schluss, alle hielten geduldig aus, einschliesslich der etwa fünfzig versammelten Bürger, bis sie ein Ende fand.
Das war eindrucksvoll, hatte aber auch etwas sehr Formales, Rituelles, und die Gesichter der Politiker zeigten kaum Regung, einer schlief bald ein.
Ein wenig Pseudo lag in der Luft.
Später auf der Plaza gab es eine Vorführung einer Schulklasse, mit Liedern, Gedichten und Sprüchen. Alles und Jedes hatte Bezug zur “Revolución Bolivariana”, und damit alle Zuhörer das auch nur ja mitkriegten, wiederholte und verschärfte ein Parteisoldat am Mikrofon die Darbietungen. Ja, der war genau das, was man einen Einpeitscher nennt. Grauenhaft!
Keine übermässige Begeisterung bei den meisten Zuschauern, ich hatte eher das Gefühl, sie nahmen es einfach hin. Natürlich waren die Mütter stolz, wenn ihre Kinder ein Gedicht oder Lied darbrachten, war es auch noch so laut gebrüllt bzw. falsch gesungen.
Aus dem Haus am Ende der Plaza drang Klarinettenmusik, dem galt es natürlich auf den Grund zu gehen. Und so fand ich nach einigem Suchen, wie versteckt in einem kleinen Raum im Innern des Gebäudes, zwei Jungen von etwa dreizehn Jahren, die nebeneinander einträchtig-andächtig ihre Instrumente bliesen, vor sich Noten von G. F. Händel. (Und genau so wenig, wie ich auf dem hiesigen venezolanischen Computer a-Pünktchen setzen kann, brachten sie ein á heraus, für sie war der Komponist Handel).
Sie spielten sehr genau, noch nicht allzu gefällig, aber ich lobte sie natürlich und erzählte ihnen, dass ich erst vor kurzem von einer berühmten Pianistin aus ihrem Land gehört habe, Graciela Montero, Improvisationsgenie auf dem Flügel. Und dann hörten wir die Montero reihum auf meinem Mini-Ipod, auf dem sich viele Bach-Variationen von ihr befinden. Zwei Bach-Themen erkannten sie wieder, ganz stolz, sie wollen Musiker werden und nehmen an einem Musikförderprogramm teil, das es so nur in Venezuela gibt.
Doch zurück ins krawallige Porlamar:
Da ich schliesslich nicht mit Gepäck, zudem bei Delinquenzfantasien und im Hitzedelirium von 35 Grad, herum laufen kann, fahre ich per Taxi (gelbes Nummernschild!) zum Puerto Faro, von wo ein Schiff aufs Festland nach Chacopata übersetzen soll.
“Chacopata” - das klingt, hart gesprochen, wild und abenteuerlich …
Die Überfahrt dahin war es auf jeden Fall: Mit einem Flussboot übers Meer, eng zusammen gepfercht mit 100 Passagieren und 100 Paketen (zollfreies Margarita!), eineinhalb Stunden heftiges Schaukeln, ein Motoraussetzer, nach dem das “Schiff” sich immerfort im Kreis drehte und noch mehr tanzte.
Fieberhaft kramte ich erst nach, dann in meiner Kulturtasche und war selig, als ich die Paspertin-Tropfen fand, von denen ich mir fünfzig pur in den Rachen träufelte - gerettet! Was kann ein Medikament ein Segen sein!
Chacopata ist eher eine Landestelle, die dort wartenden Porpuestos füllen sich reibungslos mit je fünf bis sechs Passagieren mit dem gleichen Fahrtziel, ich bin bei einer Gruppe, die auch nach Carúpano will. Noch einmal 2 Stunden Schaukeln, dieses Mal in einem Chevy, durch wüstenartiges Gelände, bisweilen hart am Meer entlang auf unbeplankten Schotterstrassen, mit Musik, Wind und Hitze und lautstarker Unterhaltung. Der Taxifahrer steuert hin und wieder den Wagen des Vaters, er studiert, 36 Jahre alt, Soziologie und redet angeregt mit der Studentin neben ihm, die von einer Uni auf Margarita zu ihrem Vater auf eine Hacienda fährt, Tochter reicher Eltern neben einem, der nur seinen Ehrgeiz hat.
In der “Posada La Nena” herrscht Duz-Zwang, das hört sich chinesisch an, ist aber bekanntlich etwas sehr Deutsches und ereilt einen weltweit, vorzugsweise bei Travellern, Trekkern und Backpackern. Volker ist der Besitzer der properen Posada, die etwas ausserhalb von Carúpano am Meer liegt. Er ist im guten Sinne abgebrüht, kenntnisreich, hat an allen Reiseführern über Venezuela mitgeschrieben, und er gehört zu einem Zusammenschluss deutscher Reiseführer und Tourveranstalter.
Das ist erstaunlich: Das vielfältige, aber noch nicht sehr intensiv genutzte touristische Angebot Venezueleas - Abteilung Ätwänscher - ist fest in Hánden von Deutschen, nicht nur Humboldt kannte den Orinoco und die Llanos.
Ausruhen, Hängemattieren, Musik hören, prima essen und Rumcocktails trinken: Nach nur drei Entbehrungstagen hatte ich schon fast den Glauben daran verloren, dass es so etwas gibt.
“Volker, können Sie mir auch eine Caipirinha machen?” ist mein Anredekompromiss, “Mach´ ich dir gern, Hermann” die unerbittliche Antwort. Aber doch schön, so fern der Heimat den eigenen Namen zu hören….
Der kleine Hafen von Rio Caribe fasziniert mich nicht nur wegen der elegant geformten bunt bemalten Fischerboote, sondern vor allem wegen der zirkusreifen Vorführungen- Hunderter von Pelikanen, die beim Verarbeiten der Fische auf ihren Anteil warten. Was heisst warten, sie schnappen sich weg, was der beutelförmige Schnabel hält, schlucken können sie später, und die Pelikanjungen brauchen schliesslich auch ihr Futter.
Von allen Seiten kommen die grossen Meeresvögel angesegelt, und kaum hat der Fischer einen Fisch ausgenommen, stürzen sie sich auf die Reste. Dabei sind sie durchaus wählerisch, Fischschwánze zum Beispiel interessieren sie nicht, auch hier regelt das Angebot die Nachfrage.
Rio Caribe ist so mittagsschwül, dass ich gar nicht so viel eiskaltes „Polar light“ nachgiessen kann, wie ich schwitze, jenes legendäre venezolanische Bier, das nur deshalb in den kleinen 0,3 l-Flaschen verkauft wird, damit es nicht so schnell warm wird. Um so grösser wird aber auch die „Strecke“, welche man nach Saufgelagen in Form der schon beschriebenen säuberlich aufgestellten Flaschenreihen hinterlassen kann.
So dokumentiert der Venezolaner bisweilen gern und eindrucksvoll seine Trinkleistung, an der Playa Medina zähle ich am Nachmittag 32 kunstvoll angeordnete „Polarcitos“ auf drei Männer - und das Werk war noch keineswegs vollendet.
Im sozialistischen Venezuela mag man sich fast darüber wundern, dass ein Produkt, welches so sehr zur nationalen Identitát gehört, mit dem „light“-Anglizismus versehen werden darf. Schliesslich sind die Amerikaner für die Chávez- Regierung hassenswerte yankis, und Chávez himself nennt Bush gern einen „diablo“. Letzteres ein lehrbuchhaftes Beispiel, wie sich die Extreme - hier politisch - in ihren Methoden gleichen, Bush kann so in sein „Reich des Bösen“ gleich selber, als Chávez´ Teufel, einziehen. Sollen sich die beiden Verteufler dort doch gegenseitig mit dem Dreizack aufspiessen.
Chávez weist nicht nur diktatorische Züge auf, er ist auch noch sehr fromm, beides zusammen verträgt sich bekanntermassen erstaunlich gut, beim Papst und seiner alleinseligmachenden, totalitären Kirche geht das ja auch prima zusammen. Vor Benedikt würde Chávez wohl sogar in die Knie gehen.
Ich muss noch ein wenig beim Bierthema verweilen. Die Polar-Bierfabrik bereitet grade ihren Abgang aus Venezuela vor, Chávez hat ihnen ein Ultimatum gestellt, die Firma ist einfach zu gross, zu mächtig, und ihre Besitzer sind zu reich und rechts. Ausserdem hat sie das falsche Produkt, der Máximo Líder hat es nicht so mit Alkohol, in der letzten Semana Santa liess er den Verkauf dieses unheiligen Stoffs, also auch Bier, einschränken, und so mancher hat mir erzählt, er wolle bald das Bier komplett verbieten lassen, aber das muss man wohl nicht so bierernst nehmen. Cerveza Polar ist allerdings auf dem Rückzug.
Da sind die Einschätzungen der Soziologie-Professorin am Strand von Medina, die dort mit ihren zwei Söhnen einen Ferientag verbringt, schon realitätsbezogener, wie ich glaube: Unterstrichen von einer geradezu strengen Gestik, rechnet sie , “ich bin eher eine Linksintellektuelle”, mit dem Chávez-Regime ab, dem sie anfangs durchaus hoffnungsvoll gegenüber gestanden habe.
“Chávez wird zunehmend autoritärer, seine Auftritte und Äusserungen immer radikaler, der Personenkult wird allmählich unangenehm…”
Im letzten Punkt konnte ich ihr, aus der Wahrnehmung des Besuchers, nur beipflichten. Ich hatte mich an Chávez bereits satt gesehen.
“Wir sollen hier eine Staatspartei nach dem Vorbild Kubas bekommen, das ist in vollem Gange! Auch die Gewaltenteilung, Essenz der Demokratie, zerbröselt langsam (´korrodiert´, sagt sie), und die Meinungsfreiheit nimmt ab ….” Sie erwähnt das Beispiel des Fernsehsenders, der von Chávez geschlossen worden sei, worauf ich einwende, da sei meines Wissens doch nur die Sendelizenz nicht verlängert worden.
“Wollen wir um Formulierungen streiten?”, fragt sie mich. Nein, will ich nicht, wohl aber noch auf die sozialen Verbesserungen zu sprechen kommen, welche der Regierung Chávez doch immerhin zuzurechnen seien. Und die Professorin zählt auch ein paar Dinge auf und würdigt sie, das mildert aber nicht ihre entschiedene Kritik am System.
Mich durchzuckt ein “Dejà vu” – Erlebnis: April 1988 in der DDR, ich will eine ostdeutsche “Schwester”, die auf ihre realsozialistische Regierung schimpft, trösten, vor allem aber überzeugen, dass das System doch auch seine guten Seiten habe. Wie lächerlich - auf mich hatte die gute Frau gerade gewartet …
Doch weiter mit meinem Ausflug auf die Halbinsel Paria, ich bin jetzt auf der Kakao-Hacienda Bukare, über die ich schon auf dem Hinflug mit dem Schokoladenmann geredet hatte.
Wir gehen zuerst durch die Kakaoplantage („Kaba der Plantagentrank“ kommt mir in
den Sinn, mitsamt Melodie), die nicht etwa eine Mono-Pflanzung ist, sondern Urwald mit vielen Kakaobäumen darin, an deren Stämmen kleine und grosse, grünliche bis rötliche Kakaofrüchte in verschiedenen Reifegraden hängen, als habe sie jemand angeflanscht. Neben Señor Bukare und mir sind viele Mosquitos unterwegs, und mein Begleiter hat keine Einwände, als ich vorschlage, den Rundgang radikal abzukürzen.
Wie gern hätte ich den gesamten Produktionsprozess, von der Kakaobohne bis zur fertigen Schokolade (die bei 75% Kakaoanteil erst anfängt), verstanden!
Das war weniger ein Sprach- denn ein Stoffproblem, die Sache ist recht kompliziert. Obwohl alles geduldig erklärt und anschaulich präsentiert wurde, schliesse ich den Schokoladenbericht ab - und die Augen zu beim Verkosten der einzelnen Sorten. Warm und weich ist die Bukare-Schokolade natürlich bei den Temperaturen, aber ganz ursprünglich lecker!
Herr Sprüngli hätte seine Freude gehabt.
Zur legendären „Playa La Medina“, vorgeblich schönster Strand von Venezuela, gelangt man nur mit alten Porpuestos, deren Fahrer genügend Lust, Laune und Geldmangel haben, um die löchrige Schüttelpiste unter die extra breiten Chevyräder zu nehmen.
Es ist wie fast immer, die Superlative für Naturschönheiten stimmten entweder schon bei ihrer Erfindung nicht - oder sie haben ihre Halbwertzeit bereits überschritten. So auch bei der Playa Medina, deren „goldgelber“ Sand eher ins schmutzig-bräunliche spielt, und deren Wasser so undurchsichtig ist, dass ich meine Füsse nicht mal erahnen kann.
Von grosser Schönheit aber ist die Landschaft, in der Palmen nicht nur den Strand säumen, sondern die gesamte Bucht ausfüllen. Und der Redsnapper-Fisch, der hier merkwürdigerweise „La Catalana“ heisst und in einer Garküche von netten Frauen frisch gebraten wird, lässt den Sand vor meinen Augen auf einmal golden schimmern ....
Ausbildungszentrum für ländliche Entwicklung (CCDA)