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1992 - 2024
32 Jahre entwicklungspolitische Arbeit

 

Brandkatastrophe in Asuncíon
von Hermann Schmitz † 30.03.2019
12.08.04     A+ | a-
Den kleinen Abhang zur Hütte der Familie Ibarra kommt man nur halb im Rutschen runter, der Regen hat im Laufe der Zeit die in den Lehm gegrabenen Stufen zum Verschwinden gebracht. Die Oma Ibarra sitzt unter dem selbst gemalten Schild „Despensa“ - so heißen die zahlreichen Mini - Kramlädchen mit dem kargen Angebot, in der Hoffnung gegründet, mit dem Verkauf von
irgendwas irgendwie zu verdienen - und lässt sich von der 11jährigen Enkelin Rosa gern ihre grauseidigen Haare kämmen, ein friedliches und schönes Bild mitten im Elend.
Daira kommt soeben aus der Schule, sie hat heute Geburtstag, wird 10, hat von der Lehrerin einen als Gesicht gestalteten bunten Luftballon bekommen, den sie stolz ihrer Mutter zeigt.
Die ist gerade dabei, die typischen, billigen braunen Glasteller mit Nudelsuppe zu füllen.
Rosa und Tomasa, das jüngste der 3 Mädchen, setzen sich an den Tisch, bald kommt auch Daira dazu, die schnell ihre Schuluniform ausgezogen hat und nun so unscheinbar aussieht wie ihre Geschwister.
Etwas abseits sitze ich mit der Eineinhalbliterflasche Cola aus dem Despensa - Kühlschrank, der mit dem illegal abgezapften Strom läuft, man hat dem Kunden und Gast freundlich einen Stuhl hingestellt und lässt sich nicht weiter stören. Diese Mutter fasziniert mich: Ärmlich, aber auffallend reinlich und sorgfältig angezogen, mit glatt gekämmten und am Nacken zusammengebundenen Haaren, bereitet sie konzentriert einen großen Teller Salat für ihre Mädchen, spricht ruhig mit ihnen auf „Guaraní“ und beantwortet meine Fragen auf spanisch, ohne von ihrer Tätigkeit hochzusehen, die Mahlzeit für die Kinder ist am wichtigsten.
Der Vater kommt hinzu, jetzt ist die Chacarita - Familie komplett. Er wäscht die Autos der Abgeordneten oder versucht mit anderen Verlegenheitsjobs, ein paar Guaraníes zu verdienen, die Mutter macht den Laden, Oma hilft aus.
Wir leeren gemeinsam die Riesencola, reden noch ein bisschen, Daira erzählt von der Schule, sie kann besser spanisch als die Oma. Ich will statt 5.000 Guaraníes (0.75 Euro) das doppelte für die Cola bezahlen, aber Frau Ibarra sagt so bestimmt: „Acá, Señor, tiene su vuelto – hier, Ihr Wechselgeld“, dass ich mich wieder mal ein wenig schäme für meine falsche und billige „Großzügigkeit“.
Aber Daira verspreche ich ein kleines Geburtstagsgeschenk von unseren mitgebrachten Sachen, und natürlich kriegen ihre Geschwister auch was. So kann ich – vielleicht mit Ute – noch mal wieder kommen zu dieser x-beliebigen und doch ganz besonderen Familie aus der Chacarita, die wie Tausende andere nicht nur mit ihrer Armut kämpft, sondern vor allem um ihre Würde ! Fünfzig Meter oberhalb schauen sie auf den Regierungspalast.

Am Dienstag, dem 03.08. kommen wir in Asunción an, nur 2 Tage nach der schrecklichen Brandkatastrophe ...

In São Paulo waren wir Sitznachbarn einer Paraguayerin, die seit 15 Jahren in Brasilien lebt und jetzt zum ersten Mal wieder in die alte Heimat zurück fliegt. Sie arbeitet in São Paulo bei wohlhabenden Brasilianern im Haushalt, ihre Dona hat ihr die Flugpassage bezahlt - Grund: Ihr einziger Bruder ist unter den Opfern der Brandkatastrophe.
Er war Angestellter im „Supermercado Botánico“ und arbeitete in der Bäckerei des Supermarktes, in der sich die Explosion ereignete.
Bruder Fernando hinterlässt Frau und 3 kleine Kinder - "nur" eins von unzähligen Schicksalen.
Seine Schwester Clara, unsere Mitfliegerin, ist 48 Jahre alt, mit einem Brasilianer verheiratet, hat selbst keine Kinder ("Wie kann man Kinder in diese Welt setzen!?"). Der Tod und das Leid von zahllosen Kindern bei dem Unglück scheint für sie wie eine Bekräftigung dieser Überzeugung zu funktionieren.
Sie weint, erzählt aber gern ihre Geschichte. Sie hat Angst vor der Begegnung mit ihrer Schwägerin und den drei Waisenkindern - zwei Nichten von zwei und fünf Jahren und ein Neffe von sieben Jahren, die sie alle nur von Bildern kennt - und sie schluchzt auf, als sie bedauert, ihren Bruder in all den 15 Jahren nicht ein einziges Mal wieder gesehen zu haben.
"Und nun kann ich nicht mal seine Leiche sehen, nichts ist von Fernando übrig geblieben ...."

Fast alle Leichen waren vollständig verkohlt, bei der Identifizierung im benachbarten 12. Infanterie-Batallion müssen sich schreckliche Szenen abgespielt haben. Natürlich war man überfordert - bei der Unzahl von Toten, die auch beim Transport noch regelrecht auseinander brachen, und angesichts Hunderter, wenn nicht Tausender verzweifelter Angehöriger.
Ich war den ganzen Vormittag im provisorisch eingerichteten Notfall-Zentrum gegenüber dem Supermarkt - ein typisch paraguayisches Chaos. Die Zahl der Toten ist inzwischen auf über 400 gestiegen, ein Ende des Zählens von Leichen, die ja nicht mal mehr welche sind, ist nicht abzusehen. Die Ziffer steht - schlicht und ergreifend, im wahrsten Sinne - auf einer der überall ausgehängten handgeschriebenen Informationstafeln. Auf einer anderen ist die aktuelle Zahl von 75 "desaparacidos" angegeben. "Verschwundene" nennt man hier die nicht mehr aufgetauchten, aber auch die nicht zu identifizierenden Personen. Die meisten Opfer wurden durch den Qualm in kurzer Zeit vergiftet bzw. erstickten.
Der immer noch rauchende Supermarkt mit seinem stolzen, völlig intakten Reklameturm  erinnert mich an Bilder aus dem Irak: Pechschwarzer Ruß und Rauch, martialische Gestalten von Polizei und Militär, fast alle mit Maschinengewehren, dazu mit weißen Atemmasken wegen der immer noch gefährlichen Dämpfe, bilden einen dichten Schutzring um das große Gebäude.

Was schützen sie? Nun - im Gebäude sind Spezialisten am Werk, auch Fachleute aus Chile und Argentinien, die nach der genauen Ursache forschen, wo doch alles klar zu sein schien ...
Aber die Spekulationen schießen ins Kraut, im Moment ist von einem Attentat die Rede. Keiner der Menschen, mit denen ich spreche, glaubt daran. Überraschend war allerdings, dass die beiden großen Gasbehälter, deren Explosion als Ursache angenommen wurde, völlig intakt waren. Außerdem soll es sich nun um 2 Explosionen gehandelt haben.
Wie auch immer: Die beiden Supermarktchefs, von denen Freund Oscar weiß, dass sie stadtbekannte Mafiosi sind, in deren Supermarktkette Drogengelder gewaschen werden, sind hinter Gitter. Ein Glück für sie - sie wären längst von einer wütenden Menge, wie auch ich sie noch am Mittwoch Morgen erlebe, gelyncht worden. Denn ganz unstrittig und von zahlreichen Zeugen belegt, hatten sie in der Tat den Befehl gegeben, die Ausgänge zu schließen, obwohl es schon heftig qualmte. Als ich heute die schweren Eisengitter (wie bei einer mittelalterlichen Ziehbrücke) des Supermarktes sehe, verstehe ich auch, dass nicht einmal die verzweifelt gegen sie
anstürmenden Massen eine Chance hatten. Schwarz und unheimlich wie Kerkergitter, bilden sie jetzt einen gespenstischen Kontrast zur gleißenden Sonne.

Gegenüber stehen überall Trauben von Menschen, die sich um je einen Interviewpartner scharen. Sämtliche Fernseh- und Radioanstalten sind auch am dritten Tag nach der Katastrophe in Aktion, viele übernächtigte Gestalten darunter. Aber es gilt, alles und jedes einzufangen, und in der Tat stürzen sie sich bisweilen wie die Geier auf ihre Opfer. Als eine Frau laut aufschreit, während sie über den Tod von Mann und Sohn spricht, stürmt sofort ein Dutzend Reporter heran und fünf bis sechs Kameras schwenken zu ihr hinüber. Ich muss aufpassen, nicht über Kabel zu stolpern.
Ein Zeitungsmann vom "Diario de Noticias" ist besonders dreist und pietätlos: Er sieht, wie eine Frau auf das Zeitungsbild eines leblosen, aber noch intakten Frauenkörpers zeigt, und er realisiert, dass es der Körper ihrer Tochter ist - und dass die Zeitung der "Diario" ist, also seine geigene. Er nimmt der Frau das Blatt aus der Hand, faltet es so, dass nur das Leichenfoto, aber natürlich auch der Titel seiner Zeitung gut sichtbar sind, drückt der armen Frau sein Bastelwerk vor die Brust und fordert sie mit rößter Selbstverständlichkeit auf, in die Kamera zu blicken und zu weinen. Und sie weint. Und er schießt seine Bilder von der Frau, die in seiner Zeitung ihre verschwundene Tochter findet ...

Es gibt heute eigentlich gar nichts Neues, aber das Bekannte und die wuchernden Gerüchte werden wieder und wieder vor den Mikrofonen durchdekliniert. Generalstaatsanwalt Oscar Latorre, ganz in schwarz wie die Supermarktfassade, gibt sich generalstaatsmännisch, sagt mit vielen Worten nichts, legt sich vor allen Dingen nicht fest.
Interessanter sind die vielen Interviews mit einfachen Leuten, Betroffenen, Angehörigen, Bewohnern des „Trinidad“ - Viertels. Ihr Reden, Schreien, Weinen und Schimpfen ist noch immer ein Gutteil Traumabewältigung, sie nutzen die Befragungen, um sich ihren Schmerz und die ungeheure Wut von der Seele zu reden. Der Supermarkt liegt in einem eher ärmeren Viertel von Asunción, die meisten der sonntäglichen Besucher waren einfache Leute, die wegen der Sonderangebote gekommen waren, mit denen die Supermarktkette jeden Sonntag Kunden anlockt, für die jeder gesparte Guaraní zählt.

Feuerwehrmann Andrés gehört zu den „Bomberos amarillos“, der „gelben“ Feuerwehr - die "Blauen“ sind an anderer Stelle postiert. Diese beiden Feuerwehren von Asunción stehen in Konkurrenz zueinander, das weiß jeder, und mancher behauptet, dass auch bei den jämmerlichen Löscharbeiten diese Rivalität nicht außer Kraft gesetzt war. Andrés bestätigt auch ganz offen die beklagenswerte Ausstattung seiner Truppe: Wenn - wie ich ihm berichte - in Deutschland in der Zeitung gestanden habe, seine Männer hätten mit den Stiefeln Löcher im Schlauch zu gedrückt, dann sei dies "correcto“ .....
Ihre Ausrüstung ist die nicht besonders erfolgreiche Kombination von Spendenmaterial aus aller Herren Länder. Nein, aus Alemania sei wohl nichts im Angebot, und als ich ihm von der Kempener Feuerwehr erzähle, regt er an, ob die nicht auch gebrauchtes Material schicken könnten.
Zwischendurch erscheinen immer wieder junge Kollegen von ihm, die mit militärischer Untergebenenmanier, mit artigem Diener und mit der Hand am Feuerwehrhut, um Sprecherlaubnis bitten.
Ich denke darüber nach, wie solcher Untertanengeist, der in Paraguay ja noch sehr verbreitet ist, ihre Arbeit prägt. ( Der Wachmann im Supermarkt, ganz nahe bei den Massen am Ausgang, tat nichts um zu helfen; er hatte nur den "Türen zu!" - Befehl des Chefs im Kopf ...)

Mit meiner "Reporterjacke" von Aldi und der dicken Kamera füge ich mich nahtlos ein in die Schar der Berichterstatter, und wenn mich jemand fragt, bin ich eben ein „jornalista“ aus Alemania. Ein paraguayischer "Kollege" scheint nicht wenig stolz, dass Reporter sogar aus dem fernen
Deutschland angereist sind. Schülerinnen vom nahen "Colegio Maria Auxiliadora" erscheinen in ihren weißen Schuluniformen, um ihre Solidarität mit den Familien zu bekunden, vor allem mit denen von dreien ihrer Schulkameradinnen, die ums Leben kamen. Sie haben große Plakate gemalt und beschrieben, eines trägt den Titel "Conversación con Jesús":
Sie stellen Fragen und Jesus gibt ihnen eine Antwort. Das ist schön gemacht, kein bisschen kitschig und rührend anzusehen, wie sie da ein wenig hilflos und scheu agieren, auch angesichts so vieler Beobachter. Vor allem ist es ganz ehrlich. Sorgfältig kleben sie ihre Plakate an den Gitterzaun, oben binden sie noch schöne Blumensträuße fest.
Ich erzähle ihnen, welche Wirkung auch bei uns in Deutschland die Nachricht vom Unglück hatte, wie viele Menschen bei uns inzwischen ihr Land kennen und ganz besonderen Anteil genommen haben, dass wir zahlreiche besorgte Anrufe bekamen. Als sie dann noch hören, dass viele Schülerinnen und Schüler bei uns in Kempen für Jugendliche in Paraguay gesammelt haben, sind sie ganz erstaunt und können es kaum glauben, aber es tut ihnen sichtlich gut.
Schnell sind wir von Kameras umringt: Solidarität aus Deutschland, Berichte über Reaktionen auf die Katastrophe bei uns sind ein interessanter Stoff.

Der Ambulanz-Bus sieht innen wie ein Schlachtfeld aus, völlig übermüdete Helfer erzählen von ihrem grauenvollen Einsatz. Man mag sich gar nicht vorstellen, welche Szenen sich hier abgespielt haben. Zur Zeit gilt es allerdings nur noch, den ein oder anderen beim Einsatz Verletzten oder Ohnmächtige zu versorgen - oder den Polizisten aus der ersten Reihe, der zu viel von dem immer noch aus dem Gebäude ziehenden giftigen Rauch abbekommen hat.

Morgen will ich zu "unserem" Hospital Barrio Obrero und sehen, ob in der Kinderstation auch einige der vielen verletzten Kinder sind, keiner kann es mir sagen. Vielleicht können wir mit Medikamenten von medeor etwas zur Linderung beitragen. Auch noch eine lange Zeit nach dem Unglück werden Medikamente, die hier so sehr Mangelware sind, gebraucht.

Den beißenden Geruch des Qualms nehme ich mit zu meiner Gastfamilie Mongelós, in der es zur Zeit nur das Unglücksthema gibt. Auch der gestrige 76te Geburtstag von Don Oscar, bei dem alle 12 Kinder und 29 Enkelkinder anwesend waren, war anders als sonst. Sicher gab es auch Pizza und Bier und es wurde das traditionelle "Cumpleaños feliz" gesungen, aber die meisten Gespräche kreisten um die vielen Dramen und menschlichen Tragödien rund um die Katastrophe. Und es gab nicht einen einzigen aus diesem doch recht beliebigen Kreis, der nicht von direkt oder indirekt Betroffenen bei Verwandten, Freunden, Studien- oder Arbeitskollegen zu berichten wusste, fast jeder war auch bei einem Begräbnis gewesen.
Beatriz erzählte von ihrem Arbeitskollegen, dessen Auto partout nicht ansprang, als er zum nahen Supermarkt wollte. Gott sei Dank: Minuten später krachte die Explosion. Ricardo ist (war!) befreundet mit den Eltern des kleinen Jungen, abgebildet auf den Titelseiten im Arm eines Feuerwehrmannes, der im Laufen eine Mund zu Mund - Beatmung bei dem Kind versucht. Es wird schwer verletzt gerettet, die Eltern verbrennen. Und so könnte ich weiter berichten. Diese vielen Geschichten von unzähligen Leuten sind es, die mir das immense Ausmaß der Katastrophe bewusst machen.

Eine ganze Großstadt, ein ganzes Land sind wie gelähmt.

Zum ersten Mal in 30 Jahren Paraguay haben wir ein Auto zur Verfügung! Freund
Ricardo, eines von 12 Kindern meiner Gastfamilie Mongelós, hat kürzlich einen schrottreifen VW-Käfer erstanden und Stück für Stück wieder „in Stand gesetzt“, dieser Ausdruck ist allerdings sehr schmeichelhaft und gilt eigentlich nur für das Äußere. Der „escarabajo“ - wie der Käfer  auch hier ehrfurchtsvoll genannt wird - ist nämlich schneeweiß und hat ausgestellte (oder wie heißt das?), breite Rennreifen. Dadurch rappelt er nur noch lauter, wenn er mit seiner Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h durch die unzählbaren Asuncioner Schlaglöcher brettert.
Es würde zu weit führen, all seine Defekte aufzuzählen, aber er ist bis jetzt nicht stehen geblieben. Eins habe ich mir wohl geschworen: Nie mehr im Dunkeln fahren!
Seit gestern Mittag passt sich das Wetter wieder der Jahreszeit an, die Temperaturen stürzten von 30 Grad bis auf 12 Grad heute morgen. Während der Nacht musste ich zwei Mal eine Schlafdecke „nachlegen“. Leichter Nieselregen, ein kalter Wind - Asunción wirkt so noch weniger einladend als es sonst schon der Fall ist.

Doch nun wieder zu der alles beherrschenden Brandkatastrophe:

Obwohl ich schon zigmal im staatlichen Armenkrankenhaus war, finde ich - weil dieses Mal mit eigenem Auto unterwegs - nicht den Weg dorthin. Das Hospital Barrio Obrero liegt versteckt im gleichnamigen verwinkelten Stadtviertel. Am Justizpalast, von den Paraguayern „palacio de la injusticia“ genannt, lasse ich den Uralt-Käfer stehen und fahre mit dem Taxi weiter.
Auch auf der kurzen Fahrt kreist das Gespräch sofort um das alles beherrschende Thema.
Der Taxista erzählt von seinen 3 Kollegen, die ums Leben kamen, gestern haben sie eine eigene Trauerfeier für sie abgehalten. Und Geld für die Familien haben sie gesammelt, fast 20 Millionen Guaraníes, das sind mehrere Tausend Euro. „Wir sind stolz, das ist viel Geld für uns, wir haben selber kaum genug, um unsere Familien zu ernähren. Bei uns geht kein Guaraní verloren, so wie bei denen da oben, die stecken sich doch sogar Hilfsgelder in die Tasche ...“
Arm, aber solidarisch – und die Reichen und Mächtigen tun nichts und betrügen auch noch: Das ist die Gleichung, die nicht nur für den Taxifahrer ganz unzweifelhaft gilt.

Die Kinderärzte Dr. Cano, Dr. Baudo und die Oberschwester Irene von der „Sala de Pediatría“ erwarten mich. Begrüßung zwischen langjährigen Partnern. Unsere letzte Medikamentenlieferung von Medeor, im März per Luftfracht abgeschickt, kam vor 6 Wochen endlich aus dem Zoll, die immer gleiche Geschichte. Aber Gott sei Dank noch rechtzeitig, um z. B. die in diesem Jahr besonders gravierenden Fälle von Bronchialleiden bei mehr Kindern behandeln zu können.
Doch bei der jetzigen Katastrophe geht es um ganz andere Dimensionen. Mit seinem lächerlichen Gesundheitsetat war der Staat darauf natürlich überhaupt nicht vorbereitet; ohne schnell eintreffende Medikamentenspenden aus Brasilien, Chile oder Argentinien wäre die Versorgung der vielen Verletzten unmöglich gewesen. Sie war auch so defizitär genug, da es nur wenige Spezialeinheiten für Brandopfer gibt, und die meisten Überlebenden hatten zum Teil schwerste Verbrennungen.
Cano und Baudo sparen nicht mit Kritik an dieser medizinischen Katastrophe. Das Hospital Barrio Obrero hat allerdings keine Erwachsenen übernommen. Und die verletzten Kinder, an die ich gedacht hatte? „Casi no hay, es la triste verdad ..” Traurig aber wahr, Kinder haben kaum überlebt, eins von ihnen liegt auf der Station, die 8jährige Tatiana  mit nur leichten Verbrennungen, aber schlimmen Verletzungen im Gesicht. Ich traue mich kaum, sie anzuschauen. Sie liegt unbeweglich, ihren Stoffbären fest umklammert, schaut mich mit intensivem Blick aus dick geschwollenen, ängstlichen Augen an. Neben ihr die Mutter, die seit Sonntag nicht von ihrer Seite gewichen ist, wie Cano erzählt.
Foto ja oder nein? Kann ich zu Hause damit etwas bewegen? Als Cano mir sagt, es ginge ihr schon besser, auch ihr Gesicht werde wohl wieder einigermaßen heil, frage ich die Mutter und mache 2 Bilder.
Und jetzt? Was können wir als kleine Paraguay-Initiative schon groß tun, was macht Sinn angesichts dieser Größenordnung und bei dem Hilfs - Chaos in Asunción?
Klar ist: Es geht nur gezielt und über unsere langjährigen Partner, nicht aber über den großen anonymen Topf mit den vielen Löchern. Aber etwas können wir auch beitragen, jetzt nicht anders als seit vielen Jahren.
„Wir brauchen auch in 3 Monaten noch Medikamente, wenn wir aus den Schlagzeilen sind. Bald sollen wir Unglücksopfer, die über den Berg sind, zur Langzeitbehandlung übernehmen. Wir könnten auch etwas abgeben an uns vertraute Kollegen“, schlägt Baudo vor.
Dr. Cano lässt eine Besprechung sausen und fährt mit mir zur Notfallklinik. Das ehemalige Militärhospital, das hier nur „emergencias“ heißt, ist ein grottenhässlicher Klotz und befindet sich an einer stark befahrenen Ausfallstraße. Hier liegen im ersten Stock die meisten Opfer, die Schwerstverletzten.

Großes Durcheinander, Kommen und Gehen, Fragen und Rufen der vielen Angehörigen, und es dauert, bis wir oben angekommen sind. Canos Kollegin Dra.Vera, Leiterin der dortigen Kinderstation, ebnet uns den Weg. „Die Kinder können kaum noch, die Presseleute stürzen einfach herein, wir haben alles dicht gemacht.“ Ich bin eingeladen, werde ausdrücklich als Nicht-Pressevertreter vorgestellt. Aber ich will nicht.
Dafür stehe ich bald vor Krankenbetten der Intensivstation. Der Krankenhausleiter hat uns begleitet, ich bekomme einen sterilen Umhang und „darf“ in die Zimmer, es ist ähnlich dem Gang in ein
Gruselkabinett, wie soll ich es sonst sagen. Wie Mumien verpackt liegen da die armen Überlebenden. Anton Marecos, 25 Jahre, hat man ein Bein amputieren müssen. Der arme Kerl weiß noch nichts von seinem Stumpf, der wie ein angebundener Fremdkörper von seinem Rumpf absteht. Geräte, Schläuche, Transfusionsflaschen, herumlaufende Schwestern, konzentriert arbeitende Ärzte, die nur kurz aufschauen. Trotzdem: Ein Behandlungszimmer in Deutschland sieht anders aus, man möchte nicht wissen, was hier alles fehlt bzw. nicht für die Menschen getan werden kann.....
Wir verabreden, dass unsere Spendenmedikamente von MEDEOR an Barrio Obrero gehen, dort wie immer von „unseren“ Ärzten verwaltet und eingesetzt werden. Über Frau Vera soll ein Teil auch an das Notfallkrankenhaus gehen. Ihr vertraut Cano absolut.
Vielleicht hört sich diese Vorsicht ja verrückt an, aber Paraguay ist ein Land, wo alles und jedes Gegenstand von Korruption, Abzweigen oder auch nur „Schrumpfen“ werden kann.
Präsident Frutos ermahnte öffentlich seine Leute, die Hilfsgüter nicht zu unterschlagen.
Als wolle er sagen: „Durchbrecht doch bitte in diesem Fall mal die Regel ....“

Heute, am Samstag, wurde das vorläufige Ergebnis der Experten-Untersuchung bekannt gegeben: Eine „unglaubliche Mischung verschiedener Faktoren“ habe zu dem Feuersturm geführt, der mit unvorstellbarer Kraft und Geschwindigkeit – und zusätzlich verheerend durch Giftgase aus unzulässigem Material - den Menschen kaum eine Chance ließ.
„Erschwert noch durch das Versperren der Eingänge“ sei es so zum Tod von 369 MENSCHEN gekommen. (Die Zahl von über 400, die schon die Runde machte, war wohl auch deshalb im Umlauf, weil man die „Verschwundenen“ mit eingerechnet hatte.)
Auch der Präsident schließt jetzt, „por el momento“, die Attentats - Version aus.

Natürlich werden immer noch weitere Einzelheiten bekannt. So ist bewiesen, dass ein Wachmann des Supermarkts Versuche, die abgesperrte Tür mit den verzweifelten Menschen davor von außen zu öffnen, mit Warnschüssen in die Decke verhinderte. Kadavergehorsam.
Am Tag der Katastrophe war die Hauptstadt ohne Verwaltungsspitze. Bürgermeister Enrique Riera war privat nach Buenos Aires gereist - ohne sich abzumelden. Er gab telefonische Anweisungen von der argentinischen Hauptstadt aus. Der Vize war zunächst nicht aufzufinden.
Gestern musste er überdies einräumen, dass beim Supermarkt Bolaños nie eine Endabnahme des Gebäudes stattgefunden habe. Völliges Versagen der Verwaltung.
Einem Vater, der nach seinem toten Sohn forschte, wurde das Häuschen ausgeraubt, der Dieb wurde aber gefasst. Ihn traf eine besonderer Hass, die Polizei musste ihn vor den Nachbarn retten.

Aber da ist auch eine in Paraguay nie gekannte Welle der Solidarität. Überall wird gesammelt, alle erdenklichen Hilfen werden angeboten. Landesweit ist die Anteilnahme. Ganz wunderbare Geschichten gibt es da, die mich sehr bewegen.
Gleichzeitig hat die Katastrophe die Kritik an den Herrschenden noch verstärkt, denn jene typische paraguayische Verquickung von Politik, Geschäft, Korruption, Nachlässigkeit und Raffgier ist allzu deutlich. Kaum ein großes Gebäude, die öffentlichen eingeschlossen, verfügt über die gesetzlichen Sicherheitsstandards, die natürlich auch in Paraguay gelten. Auf dem Papier. Jetzt werden wie wild viele Gebäude unter die Lupe genommen - und auf einmal offenbart sich die ganze Misere. Schnellschüsse werden getätigt, wie die Ankündigung, alle Supermärkte bis auf weiteres zu schließen, ein (schlechter) Witz natürlich. Sofort gingen 4000 Angestellte, die betroffen wären, auf die Straße.

Diese Tragödie hat die Stimmung der Hoffnungslosigkeit im Land verstärkt, gleichzeitig den Blick auf die hausgemachten Ursachen schonungslos geöffnet. Ein solches Unglück kann sicher überall passieren, aber in dieser Form eben nur in Paraguay, das ist die Erkenntnis bei vielen. Es verletzt das bisschen Stolz, das den Menschen in diesem von Korrupten und Unfähigen regierten Land noch geblieben ist. Sie haben es nicht verdient und müssen es doch ausbaden.

Wenn Verzweiflung und Wut sich doch umwandeln ließen in Veränderungsdruck und massives Einklagen einer besseren Politik! Gestern beim Marsch Tausender Jugendlicher durch das betroffene Trinidad – Viertel klang etwas davon an, wie ich las und hörte.
Da wäre ich gern dabei gewesen - auch als Fremder tun positive Erlebnisse in diesem Land gut. Hoffentlich hält das an, denn was die Politiker zur Zeit veranstalten, ist wieder nur das altbekannte Strohfeuer.

Ausbildungszentrum für ländliche Entwicklung (CCDA)

Hilfsverein Solidarität - Solidaridad

Fundación Vida Plena

Kinderstation Hospital Barrio Obrero

Fundación Celestina Pérez de Almada

Padre Oliva - Bañados del Sur

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