Wir verabschieden uns aus Concepción, halten einen vorbeifahrenden verlotterten Bus mit der Aufschrift Pozo Colorado an und nehmen zunächst Kurs auf die hohe, weit geschwungene Brücke Richtung Chaco. Es ist die jüngere von lediglich zwei Brücken, die den Rio Paraguay bei insgesamt 2000 km Länge durch paraguayisches Territorium überqueren (man stelle sich zum Vergleich ganze zwei Rheinbrücken in Deutschland vor).
Kaum auf der anderen Seite des Flusses angekommen, ändert sich das Landschaftsbild - ja, ein ganz neues Panorama tut sich auf: Grasflächen dehnen sich in endlose Weiten, gepunktet von den weiß-grauen Rücken grasender Rinder. Aber das Charakteristische sind
die Galerien von Carandaí–Palmen mit ihren schlanken Stämmen und den im Wind flirrenden Fächern - von diesen Vielzweckbäumen muss es in Paraguay die hundert - und tausendfache Menge der Einwohnerzahl geben! Man findet ihre Stämme allenthalben wieder - verwandelt in Gatter, Zäune, Verladerampen und Eingangsportale der vielen Estancias, die die Strauße säumen, und lässt man den Blick im Inneren des Busses schweifen, sieht man ihre Blätter, verarbeitet zu sombreros, auf jedem zweiten Männerkopf.
Unser Bus ist wahrlich keiner von der besseren Sorte, sofern davon in Paraguay überhaupt die Rede sein kann. Eher muss man den Eindruck gewinnen, dass sich in diesem Land der gesamte automobile Schrott des Kontinents ansammelt und auf wundersame Weise zu gerade noch fortbewegungsfähigen Vehikeln zusammen gebastelt wird. Nur ein paar Überlandbusse weniger Unternehmen, welche die lukrativen langen Strecken bedienen, täuschen jenes Minimum an Vertrauenswürdigkeit vor, das man für seine Angstberuhigung braucht.
Die Passagiere dieser Vehikel scheint das kaum anzufechten, wir hatten meist fröhliche und keineswegs ängstlich wirkende Mitreisende.
So einen Katastrophenbus sah ich unlängst noch neben der Straße liegen - umgekippt, zerbeult und mit zerbrochenen Fenstern - und ich mochte mir die herauskrabbelnden Passagiere lieber nicht näher ansehen. Bis ein Rettungswagen kommt, ist man als Unfallopfer in der Regel schon verblutet, andererseits darf man sich nicht beklagen, man hat viele Zuschauer, wie auch bei diesem Unfall. Und hatte der groß am Bus prangende Firmenname “Nuestra Señora de la Asunción” nicht auch etwas Tröstliches - erzählt er doch von Mariä Aufnahme im Himmel, da schließt man sich doch gerne an ....
Warum nur musste ich an ein solches Szenario denken, mit Blick auf die doch so schöne Landschaft, die an uns vorbei rast? Ja, rasen, das ist es - genau das tut der junge Fahrer, und das mit dieser Schrottkarre! Will er dem Mädchen an seiner Seite, das ihm regelmäßig das Mategefäß mit dem kalten Tereré reicht, seine Fahrkünste beweisen? Mit einer Hand (sonst kann er doch nicht seine Mate-Tee trinken, das heiligste Recht des Paraguayers in jeder Lebenslage, das muss man verstehen),
mit der anderen zur Untermalung seiner Reden gestikulierend - und seine Augen mehr auf den Ausschnitt der Schönen als auf die Straße gerichtet - verwechselt er ganz offensichtlich diese doch so einfache Busfahrt mit der Transchaco – Ralley.
(Diese Wettfahrt findet tatsächlich einmal im Jahr statt, bei ihr rasen an die hundert Autos durch den Chaco, der dann seinem Beinamen “Grüne Hölle” alle Ehre macht - wegen des höllischen Spektakels, grün ist er sowieso meistens nicht.
Die Mennoniten im Chaco sind jedes Mal sauer wegen der umgepflügten Erdstraßen, die Indianer dürfen sich an kaputt gefahrenen Toyotas oder Mercedes´ erfreuen - und am Ende gewinnt immer Toyota).
Da der Motorraum unseres Busses fast ganz frei liegt, wohl noch von der letzten Reparatur, schafft der frische Fahrtwind ohne Zweifel ein angenehmes Klima, andererseits ist aber der Motorlärm ganz unerträglich und unterstreicht das Gefühl, an einem halsbrecherischem Schrottauto-Rennen teilzunehmen.
Ich habe Angst. Was tun? Bin ich wehrlos meinem Gefühl ausgeliefert?
Oder hatte ich nicht etwa neulich in einer ähnlichen Situation Mut bewiesen:
Da war ein junger Mann mit einer prall gefüllten Plastiktüte in den Bus gestiegen, in dem ich saß, und als der Bus anfuhr, bemerkte ich eine Bewegung in dieser Tüte, ein Hin- und Herschwappen, während der Mann die Tüte vorsichtig auszubalancieren versuchte. Es roch auch - ich saß nicht weit entfernt - so merkwürdig nach Tankstelle. Sollte tatsächlich ...?!
Der Busfahrer rauchte. Es war ein glühend heißer Tag. Mir wurde eiskalt.
“Qué tenés en tu bolsa esa?” wollte ich jetzt den Inhalt der Plastiktüte doch unbedingt erfragen. “Gasolina nomá ... nur ein bisschen Sprit”, gab der Zugestiegene freundlich zurück. Hijo de puta! Verdammter Hurensohn !!
Sein Moped war stehen geblieben, er war per Bus zum Spritfassen gefahren - wer regt sich denn über sowas auf .... ?
Ich! Und zwar heftig! Immerhin machte der Fahrer auf meinen Protest hin seine Zigarette aus (was beinahe noch gefährlicher war als hätte er sie weiter geraucht) und legte dem Passagier nahe; auszusteigen, aber da stand schon sein Moped am Straßenrand, die Ampel war rot und ich sah noch, wie er einen Zipfel seiner Sprittüte anpiekste und ihren Inhalt in den Tank fließen ließ. Das nun wiederum zweifellos genial!
War das jetzt sehr überheblich und europäisch-deutsch-besserwisserisch von mir? Ein jeder möge sich prüfen.
Und heute - auf dieser Chaco-Kreuzfahrt - bin ich wieder so ängstlich und überlege mir eine Strategie gegen dieses ohnmächtige Gefühl, einem Kamikazeflieger hilflos ausgeliefert zu sein. Ute blickt erstaunt von ihrem Buch hoch, als ich aufstehe und mich nach vorn zum Fahrer durcharbeite. Ich halte 20.000.- Guaraníes in den Händen (ca. 3 Euro), im Kopf habe ich mir jedes Wort genau zurecht gelegt. “Usted es un conductor excelente ....” fange ich an, seinen Fahrstil über den grünen Klee zu loben, um dann meine Nervosität und heute etwas ängstliche Verfassung zu thematisieren und ihn überaus höflich zu bitten, etwas langsamer zu fahren. Dabei lege ich - un- und daher auffällig - die beiden Scheine auf den speckigen Plastikbelag direkt unter dem Jesusbild. Er streicht sie ein, lächelt breit und brüllt mich freundlich an: ”Como no, Señor, a su orden, no hay ningun problema! .... klar doch, wie Sie meinen, kein Problem .....”
Ich bin etwas ruhiger, habe aktiv etwas gegen meine Ohnmacht getan, das gibt ein gutes Gefühl. Ute meint später allerdings, nichts habe sich geändert. Egal!
Noch 2 Stunden bis Pozo Colorado, dem Knotenpunkt an der “Ruta Trans-Chaco”, die Asunción mit den mennonitischen Kolonien verbindet und von dort weiter bis zur bolivianischen Grenze führt.
Und immer wieder fällt man rein: Auf der Karte ein relativ fetter Kreis, entpuppt sich Pozo Colorado als ein Un–Ort, eine mit ein paar Behausungen versehene Straßenkreuzung, heiß natürlich sowieso, staubig, dreckig und mit je einer Tankstelle rechts und links der Straße, hinter der sich unmittelbar die typische karge Chacolandschaft in endloser Ausdehnung anschließt, in einem kraftlosem olivfarbenen Grün, welches man eher erahnt, es hat lange nicht geregnet.
Und dann steht man da - allein in der Sonne, es brummt in den Ohren und man weiß nicht, ob es der Nachhall des Motorengeräusches ist oder die dröhnende Stille, die einen plötzlich umgibt. Nicht lange, da rast aber schon der erste überlange Viehtransporter vorbei, mit doppelt so viel zusammengepferchten Rindern wie erlaubt. Wir sind schließlich an einer bedeutenden Route der Rindviecher des Landes. Aus dem Chaco mit seinen riesigen Estancias werden sie unablässig in die Hauptstadt verfrachtet, tot oder lebendig: Entweder sind sie in den riesigen Schlachthöfen der Mennoniten schon zerlegt und für den Export verarbeitet worden, oder aber sie werden nämliches Schicksal in den “frigoríficos” Asuncións erleiden.
Mit tauben Beinen laufen wir zur Tankstelle, daneben haben wir ein Schild mit der Aufschrift “Despensa” ausgemacht, also müsste es da was zu kaufen geben.
Kekse, Bananen - und der leckere, flüssige und süße Joghurt der mennonitischen Milchwirtschafts–Kooperativen, deren Produkte inzwischen im entferntesten Laden des Landes zu kaufen sind. Entgegen der Regel ist hier das Verfallsdatum nur unwesentlich überschritten.
Und wie jetzt weiter zu den Mennoniten nach Filadelfia?
Es ist vollkommen zwecklos, in Paraguay irgendjemanden nach Bussen und deren Abfahrtzeiten zu fragen - selbst dann, wenn selbige jeden Tag zu ansatzweise ähnlichen Zeiten vorbei rauschen. Allerdings bedeutet dies nicht, dass nicht gerne auf diesbezügliche Fragen geantwortet würde, ein “No sé ...ich weiß nicht” sagen die Paraguayer, höfliche Menschen, nur sehr ungern.
“A las cuatro por aí ..” ist denn auch die uns gegebene Antwort ....
Jenes jeder Zeitangabe nachgestelltes “por aí” kann wörtlich mit “so herum” übersetzt werden, lässt allerdings einen gewaltigen Spielraum. “So um 4 herum” fassen wir also hier, wo wir uns doch immerhin an einer großen Straßenkreuzung befinden, relativ eng, d.h. wir rechnen zwischen 14 und 18 Uhr mit dem Bus nach Filadelfia. Auch in dieser Situation bietet sich unsere oft bei Kilometerangaben erprobte Methode der annäherungsweisen Berechnung an: Man hole 3 Auskünfte bzw. 3 Zahlenangaben ein, addiere sie und dividiere durch 3, das gefundene arithmetische Mittel ist oft recht brauchbar .....
Um 3 steigen wir in den Bus, und Ute berichtet weiter:
Schließlich treten wir die nicht enden wollende Weiterfahrt über die Trans - Chaco an, die wir geduldig ertragen. Niemand kann uns sagen, ob und wo es eine Umsteigemöglichkeit gibt, und so landen wir zunächst in Filadelfia, der größten mennonitischen Chaco- Kolonie.
35 km bringt uns der Taxifahrer in der untergehenden Sonne über die staubige Erdpiste nach Neuland, wo das vorausgereiste Trio schon bei Vera Regent untergekommen ist : Ehepaar Paul und Hanna Thissen und die kanadische Studentin Jana.
Vera, von Haus aus Schweizerin, kam durch die Heirat mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann, der sich als Anthropologe einen Namen machte und auch Mennonit war, in den Chaco. Inzwischen hat sie sich in einschlägigen Kreisen selbst als engagierte Schützerin und Verteidigerin indigener Gemeinschaften einen Namen gemacht.
Tochter Regina, Studentin in der Schweiz und mit ihrer Doktorarbeit ganz in der Tradition der Familie bleibend, bereitete gerade in heimatlichen Gefilden eine Ausstellung zu einem Indígena-Projekt vor. Jana war sofort mit Eifer und guten Ideen mit bei der Sache.
Paul, der nur ungern das Steuer aus der Hand gibt, überließ, von einer Erkältung gebeutelt, Hermann den Wagen von Vera. Aus deren Haus kam mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Indígena – Frau. Eine Gallen-OP am Vortag hatte sie gut überstanden. Mit der Routine einer ehemaligen Krankenschwester griff Hanna ihr fürsorglich unter die Arme und verfrachtete sie mit mir in das hochrädrige Auto. Vorn neben Hermann saß ihr Mann, und zusammen brachten wir sie zurück zu ihrem Stamm. Bei jedem Schlagloch auf der Erdstraße verzog sie schmerzvoll das Gesicht, und ich litt mit ihr und beschimpfte mal vorsichtshalber – und um ein Ventil zu haben - Hermann, der aber schließlich nichts für den Zustand der Straße konnte.
Beim Anblick von Veras Wagen strömten aus allen Hütten laut rufend und gestikulierend die Mitglieder der Gemeinschaft zusammen. Kaum hatten wir unsere Patientin vorsichtig aus dem Auto bugsiert, verschwand sie in Sekunden – eskortiert von einigen Frauen – hinter der Bretterwand einer Hütte. Der verbleibende Clan schien sich über unseren unerwarteten Besuch zu freuen. Eine kleine willkommene Abwechslung an diesem bewölkten Tag mit leichtem Nieselregen im staubtrockenen Chaco, der wegen fehlenden Regens zum Notstandsgebiet erklärt worden war.
Für uns eine gute Gelegenheit, uns selbst ein Bild davon zu machen, wie in Handarbeit mit einfachsten Werkzeugen die in Deutschland geschätzten Tierfiguren aus Palo Santo-Holz geschnitzt werden. Kaum hat Hermann den Wunsch geäußert, bei der Herstellung zuzusehen, wird er umringt von lebhaften Jugendlichen, die ihn alle mit in die eigene Hütte ziehen wollen.
Dort liegt denn hier und da ein Stück Holz, eine Feile, ein paar Blätter Schmirgelpapier und allenfalls eine einfache Säge.
Erstaunlich, wie mit einfachsten Mitteln so kunstfertige Stücke entstehen, wie wir sie später bei Vera bewundern können. (Hier bei ihr war am gleichen Morgen die Ablieferung eines Wochenpensums an Palo Santo-Tieren erfolgt, und das erklärte auch die Leere in den Hütten.)
Hermann, der sich in einer engen Behausung kunstvoll gegen die Wand verrenkte, um ein Foto zu schießen, kam zur großen Erheiterung der Bewohner mit einer rußgeschwärzten Gesichtshälfte heraus.
Ich wollte mich von „unserer“ Patientin verabschieden und staunte nicht schlecht, sie auf einer Plastiktüte sitzend in einem winzigen Bretterverschlag neben der offenen Feuerstelle anzutreffen. Vor mein Auge schob sich das Bild eines weiß bezogenen Krankenbettes einer am Tag zuvor Operierten. Unsere Indígena hielt sich schützend die Hand auf die Narbe und schien offensichtlich noch Beschwerden zu haben. Gleichzeitig wirkte sie aber in der vertrauten Umgebung ruhiger und gelassener als noch zuvor im Auto.
Gemeinsam berichten wir noch etwas weiter über den Chaco, die Mennoniten und die Indígenas:
Der dünn besiedelte Westen Paraguays, der zwei Drittel der Gesamtfläche des Landes ausmacht, ist der ursprüngliche Lebensraum der indigenen Gemeinschaften, die hier als Sammler und Jäger lebten. Unter anderem durch die Ansiedlung der deutschstämmigen Mennoniten seit dem Ende der zwanziger Jahre hat dieser Landesteil eine immense Veränderung erfahren.
Nach mühsamen Anfängen der mennonitischen Glaubensgemeinschaften - mit schrecklichen Krankheiten und vielen Verlusten („Dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not, dem Dritten das Brot“) - entwickelten sich im Laufe der Jahre wirtschaftlich florierende Kolonien, die heute mit ihren hochwertigen Milch- und Fleischprodukten das ganze Land versorgen. In einer Mischung aus Fürsorge und Missionseifer wandten sich die neuen Einwanderer ihren indigenen Nachbarn zu. Außerdem waren diese natürlich hoch willkommen als Hilfskräfte für die Feldarbeit und als Saisonarbeiter für die ersten kleinen Fabriken der Mennoniten.
Für die Männer vom Stamme der Ayoreo bedeutete dies zum Beispiel, dass sie nun nicht mehr die selbst erlegte Beute von der Jagd nach Hause brachten. Die Zäune der Kolonisten, die deren neues „Eigentum“ (dieses Wort kam in der Sprache der Ayoreo nicht vor) schützten und eingrenzten, bildeten ohnehin künstliche Barrieren, die der Jagd und dem Wandertrieb ein Ende setzten.
Statt erlegtem Wild gab es einen Arbeitslohn, für den im mennonitischen Supermarkt Lebensmittel und Kleidung, aber auch ein Kofferradio oder Alkohol und Zigaretten gekauft werden konnten. Damit entfiel die traditionelle Rolle der Frau, die sie unter anderem als Verteilerin der Jagdbeute hatte. Indigene Familienplanung mit ihren eigenen Gesetzen ( ein Kind darf erst dann auf die Welt kommen, wenn das letzte laufen kann) stand im Widerspruch zu den Glaubens- und Lebensgrundsätzen der weißen Kolonisten.
Die expandierenden Kolonien mit ihrer inzwischen gut ausgebauten Infrastruktur ziehen nun seit Jahren weitere Siedler und Investoren an. Die seit Generationen angestammten indianischen Gebiete (darunter besonders fruchtbares Land, das in der feuchten Jahreszeit auch zum Maisanbau genutzt wurde) gehen verloren - und damit die Ernährungsbasis. Ehemals selbständige, von ihren Kaziken geführte Stämme passen sich den neuen Lebensformen an - und verlieren im gleichen Augenblick ihre Identität.
Im schlimmsten Fall sogar ihr Leben: Der Kontakt mit der gepriesenen Zivilisation, die ihnen eine fremde Religion mit neuer Moral und neuen Regeln überstülpt, die ihnen aber auch Hygiene, Gesundheitsvorsorge und bessere Lebensbedingungen verspricht, ist zuerst einmal todbringend.
Im April dieses Jahres war es eine kleine Sensation, die auch Widerhall in der Weltpresse fand, dass eine bis dahin unentdeckt lebende Gruppe der Ayoreos sich aus dem undurchdringlichen Chaco – Busch wagte. Wie sich später herausstellte, hatten die insgesamt 17 Personen schon seit längerem - aus dem geschützten Dickicht heraus - ehemalige Stammesmitglieder zusammen mit Weißen beobachtet. In diesem Fall waren es die Indígenas, die den Kontakt suchten. Frühere Begegnungen waren nicht immer ohne Zwischenfälle abgelaufen.
Angst und Verständigungsschwierigkeiten auf beiden Seiten schienen nicht überbrückbar.
So hinterließen indianische Speere auch Todesopfer bei den Weißen. Deren Waffen hingegen waren nicht sichtbar. Sie brachten den Ureinwohnern durch den bloßen Kontakt unbekannte Krankheitskeime (z. B. Grippe oder Masern), die nur die stärksten von ihnen am Leben ließen.
Trotz des Medienrummels schaffte es dieses Mal eine kleine Nichtregierungsorganisation, unterstützt durch den paraguayischen Staatsanwalt, die Buschleute abzuschirmen. Notwendige Impfungen konnten durchgeführt werden. Mit Erfolg. Dieses Mal konnte erreicht werden, die Zahl der Todesopfer auf einen Menschen zu begrenzen, der, alt und müde, selbst zu sterben wünschte.
Die Ärzte, die nach den ersten Kontakten die 17 Menschen untersuchten, bemerkten mit Erstaunen deren ausgezeichneten Ernährungszustand, die guten Zähne, die gesunde Haut.
Ein Wettstreit entsteht nun zwischen den Vertretern verschiedener Kirchen und Sekten, die, alle im Dienste der einzigen richtigen Religion, die neuen Seelen einfangen wollen.
Schon länger waren aus den bereits „integrierten“ indigenen Gemeinschaften heraus - als Erfolg intensiver Bildungsarbeit inzwischen auch eigener Lehrkräfte - die ersten klugen Köpfe erwachsen. Geeignet für ein Studium, z.B. der Rechtswissenschaften. Dies könnte sie in die Lage versetzen, die eigenen Rechte selbst zu vertreten. Aber in Paraguay, wo die Mestizengesellschaft (85 %) bis heute konsequent die Erkenntnis der eigenen indianischen Wurzeln verweigert, scheint es noch nicht möglich, indianische Studenten in den Lehrbetrieb der Universitäten zu integrieren. Es scheitert an Studiengebühren, geeigneter Unterbringung und gutem Willen. Auf der sozialen Stufenleiter der Paraguayer sind die Ureinwohner auf der untersten Stufe angesiedelt.
So bleibt es bei dem Bemühen engagierter Menschen wie Vera Regent oder Amado Benner, beide tätig für GAT (Grupo de Apoyo a los Totobiegosode = Verein zur Unterstützung der Totobiegosode), die sich, trotz mancher Rückschläge, nicht entmutigen lassen.
Das Aufeinandertreffen der verschiedenen Kulturen ist natürlich nicht zu verhindern.
Es gilt, die Grundlage für ein einigermaßen faires Zusammenleben zu schaffen, indem z.B. indigene Kultur, mündliche Überlieferung und handwerkliche Fähigkeiten belebt und ihnen wieder eine Wertschätzung eingeräumt wird. Gleichzeitig kämpft die Gruppe darum, wertvolles Land, von der Regierung an Militärs oder an Ausländer verhökert, zurück zu kaufen und damit ihren Schützlingen, die sich als Bewahrer der Natur auszeichnen, einen ihnen vertrauten Lebensraum zu sichern. Ein mühsames Geschäft!
(Da das Ende der traditionellen Jagd- und Sammelwirtschaft abzusehen ist, müssen auch nachhaltige landwirtschaftliche Anbaumethoden erlernt werden. Wir leisten als PPI dazu einen kleinen Beitrag durch die Finanzierung von Gartenbaukursen, auf die sich Paul und Hanna Thissen spezialisiert haben.)
Wir besuchen Amado, wie er hier genannt wird, seine Frau und die Mitarbeiter von „GAT“ in ihrem kleinen Büro in Filadelfia. Auf dem Computerbildschirm erscheinen die Fotos der bislang inexistenten paraguayischen Neubürger - „mit klopfendem Herzen“ aufgenommen (Amado) - wie sie sich ihnen nähern und bereitwillig fotografieren lassen. Sie begrüßen, offensichtlich mit großer Freude, ihre mit erschienenen „zivilisierten“ Verwandten. Es sind hoch gewachsene, muskulöse Männer, von hellbrauner Hautfarbe und nackt bis auf die Blöße, in entspannter Körperhaltung und mit einem Gesichtsausdruck, den man - interpretierend - als erstaunt und kindlich naiv deuten könnte.
Amado hütet die Fotos wie seinen Augapfel, die Presse ist ihm auf den Fersen, ebenso die US-amerikanische Missionsgesellschaft der New Tribes Mission, die zur „Rettung“ der letzten Ureinwohner bereit steht. Doch wie gesagt: Dieses Mal scheint es zu gelingen, den Quantensprung in die „Zivilisation“ friedlich und ohne Opfer zu gestalten.
Das Haus von Vera Regent ist eine Art Museum, angefüllt mit eindrucksvollen Stücken aus dem indigenen Kunsthandwerk, Teppiche, Schmuckbänder, Töpfereien, Kopfschmuck und - aus der wiederbelebten Herstellung - Taschen aus Kaktusfasern und Tiere aus Palo Santo, dem wohlriechenden „heiligen Holz“ aus den Chaco – Wäldern. Frau Regent hat dafür gesorgt, das schon fast verloren gegangene Kunsthandwerk wieder zu beleben, der Erlös aus dem Verkauf der Stücke hilft den indianischen Gemeinschaften, ihre Existenz zu sichern.
Auch in Kempen und woanders steht so manches Exemplar der Chaco-Tiere im Regal oder auf der Fensterbank: Schweine, Schildkröten, Ameisenbären, Gürteltiere oder Schlangen erfreuen durch ihre einfache schöne Form, schmeicheln in den Händen - oder in der Nase mit dem feinen Harzduft des heiligen Holzes .....
Wir packen wieder eine Menge Tiere und Taschen ein, können so durch den Verkauf in Deutschland ein wenig mit helfen. Wir kaufen auch so viele kleine Schmucktäschchen, dass wir jedem unserer Mitglieder eins davon zu dem Rundbrief legen können, den wir auch in diesem Jahr wieder von hier aus versenden wollen. Dazu ein Foto und eine indianische Zeichnung zum Thema „Indianische Schulen“ mit einem entsprechenden Text, den wir auch an dieser Stelle wieder geben:
Der Zeichner, der Ayoreo Marcos Moreno (der bereits einen spanischen Namen hat), erzählt:
„Wir lebten in Clayóch, auf schönem ebenen Land mit Lagunen gelegen, weit entfernt von der Mission. Meine Eltern hatten gehört, dass die Ele (Priester des Oblatenordens) nach Esteros gekommen waren und dass sie die Kinder in eine Schule einsperrten, wo sie lernen sollten. Während des ganzen Jahres mussten die Kinder dort bleiben, obwohl die Schule ganz in der Nähe ihres Dorfes lag.
Die Ele glaubten, wenn die Kinder die Schule verließen, würden sie alles was sie gelernt hatten wieder vergessen. Meine Eltern wollten mich nicht in diese Schule gehen lassen, sie hatten große Angst, man könnte ihnen ihre Kinder wegnehmen.
Als während des Chaco-Krieges immer mehr Samto (Weiße) auftauchten, kam es vor, dass ältere Schülerinnen und Schüler aus der Schule davon liefen.
Sie suchten den Weg nach Argentinien, zu den Zuckerfabriken. Dort trafen sie manche aus ihrem Stamm wieder, und mit denen gemeinsam gingen sie in deren Dörfer. Erst dort lernten sie das Leben der Ayoreo außerhalb der Mission kennen - die Tänze, die Zeremonien, die Feste. Sie erzählten ihren Leuten, wie die Ele sie bestraft und sogar geschlagen hatten.
Die ersten Schüler der Ayoreo lernten spanisch und deutsch zu sprechen und verhielten sich auch fast schon wie die Samto. In den Zuckerfabriken arbeiteten sie z. B. als Helfer der Aufseher und begleiteten die Vorarbeiter, um die geleisteten Arbeiten in die Listen der Samto einzutragen. Sie brauchten dazu kein Werkzeug, sie schnitten kein Zuckerrohr, machten nicht die gleiche Arbeit wie ihre Stammesbrüder, hatten aber auch ihre kleinen Einkünfte.
Später zogen wir nach Cayim Ô Clim, dort war die Schule in der Nähe unserer Hütten, und die Schüler konnten jeden Tag ins Haus ihrer Eltern zurück.
Alles was meine Eltern und Großeltern wussten, brachten sie mir bei. Sie zeigten mir die frische Tigerspur und lehrten mich Vorsicht und Geduld. Sie zeigten mir, wie man die verschiedenen Tiere aufspürt und mit Bogen und Pfeilen jagt. Wir hatten aber auch schon Flinten.
(Meine eigene Großmutter redete so mit mir: ´Höre immer gut zu, mein Enkel, du musst viel lernen, nicht wie die anderen sein, die von nichts eine Ahnung haben. Die werden leicht zu Dieben, stehlen Schafe oder die Ernte. Der Junge, der sich nur mit anderen streitet und Unsinn macht, ist nicht viel wert, ein Ayoreotaa, ein Taugenichts. Du sollst nicht so werden. Sei aber auch nicht angeberisch, respektiere die Älteren. Wenn du verheiratet bist, streite nicht mit deinen Verwandten herum, sei liebevoll zu deiner Frau und deinen Kindern - und niemals aggressiv. Respektiere deine Schwiegereltern; wenn der Schwiegervater redet, kritisiere ihn nicht, mache dich auch nicht lustig über ihn. Wenn dich deine Schwiegermutter ruft, gehe sofort zu ihr hin. Ojei papu ti suy! Wer wütend wird, hat keine Erziehung!`)
Heutzutage habe ich schon fast vergessen, wie man ein Tier sucht und erlegt. Stattdessen sind wir es heute gewohnt, Arbeit zu suchen und uns anzustrengen, unsere Rechnungen zu bezahlen. Ich halte meine Enkel an, zur Schule zu gehen, wo sie lesen lernen und wie man vielleicht ein besseres Leben führen kann.
Es hat sich viel geändert. Wir leben heute auf Land, das nicht unseren Vorfahren gehörte. Wir sprechen jetzt auch andere Sprachen, mit Wörtern, die unsere Vorfahren gar nicht kannten. Ich möchte, dass meine Enkel ein Studium machen und Sachen erfahren, die meine Vorfahren und ich nicht wussten. Ich glaube, wenn sie gut lernen, bekommen sie eine bessere Arbeit; ich möchte, dass sie zufrieden sind.
Aber wir haben noch viele Probleme in der Schule. Ein Abitur-Schuljahr z. B. kostet viel Geld, wo sollen wir das her bekommen? Wenn die Eltern das nicht bezahlen können, gibts kein Studium für ihre Kinder. Manche haben Glück und kennen einen Samto oder guten Patrón, der sie unterstützt, andere erreichen es mit einer Riesenanstrengung. Viele aber schaffen es nicht.
So geht es uns, den Ayoreo.
Wie es vielen indianischen Brüdern der Ayoreo geht, erleben wir auf der Rückfahrt aus dem Chaco. Immer wieder tauchen neben der Ruta Transchaco Behausungen indianischer Familien auf, grob zusammen gezimmerte Hütten aus Carandaí- Stämmen, manchmal auch nur elende Notunterkünfte aus schwarzer Zeltplane. Hier sind die einstigen Bewohner des Chaco zu einem wahren Hungerdasein verurteilt, Bettler am Rand der großen Straße, ohne eigenes Land, ohne ausreichende Nahrung, ohne gesundheitliche Versorgung, von Schulbildung für ihre Kinder ganz zu schweigen.
Es sind Entwurzelte, für sie ist kein Platz, weder geografisch noch gesellschaftlich. Das einzig Positive, was man von der “Indianerschutzbehörde” Paraguays sagen könnte, ist, dass sie das traurige Schicksal der Ureinwohner des Landes verwaltet.
Wenn es Veränderungen zum Besseren gibt, so kommen sie von engagierten Gruppen, national oder international, die sich für die Belange der indianischen Gemeinschaften des Chaco einsetzen. Auch kirchliche und mennonitische Kreise findet man darunter, Landsicherungsinitiativen und solche, die Rechtsbeistand gewähren - wenig genug angesichts einer gleichgültigen Gesellschaft und einer verantwortungslosen Politik.
Wir halten an einer Art “Galgen”, von dem ein gerade erlegtes Gürteltier baumelt, das Autofahrer zum Kauf animieren soll. Manch einer deckt sich so mit Wildfleisch ein, Gürteltiere sind besonders geschätzt - und werden somit immer rarer. Für die Indígena-Gruppe hier an der ruta aber ist es eine kleine Geldeinnahme, wie auch im Falle der alten Frau, die aus Carandaíblättern kunstvoll hergestellte Hüte anbietet, von denen wir zwei erstehen, nicht für uns, wir werden schon zu ihnen passende Köpfe finden ...
Immer mehr indigene Grüppchen versuchen auch, das Elend im Chaco hinter sich zu lassen und machen sich auf den Weg nach Asunción. Einige haben sich organisiert und protestieren , z. B. vor dem Landwirtschaftsministerium.
Andere lagern wochenlang auf Plätzen der Hauptstadt, z. B. auf der großen Plaza Italia, wo sie wie lästiges Ungeziefer angesehen werden.
Noch mehr aber vagabundieren bettelnd durch die Stadt: Da sieht man elende und verzweifelte Mütter, die ihre kleinen Kinder während der Rotphase der Ampeln als Lockvögel zu den Fahrern in den chromblitzenden Straßenkreuzern schicken, woanders Grüppchen von Kranken, Zerlumpten, oftmals Drogenabhängigen, die sich - Kinder noch - prostituieren oder auf Diebestour gehen.
“Angepasst” an das Leben in der Großstadt haben sich seit Jahren die Mitglieder des Stammes der “Macá”, die auf einer Flussinsel des Rio Paraguay in der Nähe von Asunción “wohnen”. Sie lassen Touristen in ihr kleines Reservat und legen gegen Bezahlung ihre alten Trachten und den verstaubten Federschmuck an, vielleicht machen sie auch ein Tänzchen - ein trauriges Bild!
Für den, der noch einen Dollar drauf legt, ziehen die Frauen auch schon mal den Pullover hoch und zeigen ihre nackten Brüste.
Im Zentrum von Asunción sieht man sie auch ihr “Kunsthandwerk” anbieten, nachgemachte Gebrauchs- und Schmuckgegenstände. Wenn man den Flitzebogen nur ein wenig spannt, kracht er mitten durch.
Der einstigen “Cacique” der Macá ist am Helden – Pantheon zu sehen, er lächelt freundlich und bietet geduldig seinen Touristenkrempel an - vielleicht ein noch traurigeres Bild.