Am Mittwoch, 15. September, treffe ich Anna (24) und Dominik (22) in meiner Pension.
Ihren Freund „Dom“ sehe ich zum ersten Mal, wie sind uns sympathisch. Ich bin ein bisschen beruhigt - aus dem unbekannten Mitreisenden ist schnell ein Partner für die anvisierte Abenteuerreise geworden, Spannung und Vorfreude steigen. Der gemeinsame Reiseteil in den „Parque Nacional Defensores del Chaco“ wird mit zwei so angenehmen jungen Leuten bestimmt ein gutes Erlebnis. Anna und Dom waren zuvor schon einige Wochen unterwegs, die Aussicht auf Abenteuerliches und Ungewisses konnte sie keineswegs schrecken, ganz im Gegenteil. Anna hatte es mit ihrer Paraguaysehnsucht in Frankfurt nicht mehr ausgehalten, ein Besuch in ihrer Gastfamilie in Caacupé in der Nähe von Asunción war unbedingt fällig. Und Dom war „fällig“, nämlich als Begleiter und zu Begeisternder für ein Land und für Menschen, die Anna so viel bedeuteten..
Wir besprechen das Notwendigste, regeln die Finanzen für die nicht billige Tour Als schon alles geklärt schien, erläutere ich auch noch die Fortsetzung meiner Reise, die ich nach unserem gemeinsamen Nationalparkbesuch anschließen will. Als die beiden sich mehrmals während meiner Beschreibung bedeutungsvoll anschauten, ahnte ich sofort warum. „Och - da würden wir auch .....“
Kurzum: Ich würde und wollte auch, und so wurden wir schnell einig und zu Partnern der ganzen 10tägigen Tour. Am Donnerstag Abend fahren wir mit dem brutal klimatisierten NASA – Bus durch die Nacht des „Unteren Chaco“ bis Filadelfia, wo wir um 4.30 Uhr ankommen, über 500 km in knapp 7 Stunden, das ist fast Rekord in Paraguay.
Filadelfia, mennonitischer Siedlungsschwerpunkt im paraguayischen Chaco, ist Ausgangspunkt unserer Tour in den 250 km nördlich gelegenen Nationalpark „Defensores del Chaco“ („Verteidiger des Chaco“) - in Gedenken an den erfolgreichen Kampf der Paraguayer im Chacokrieg gegen Bolivien. Der Freitag ist der ersten Erkundung des „Zentrums“ von Filadelfia gewidmet, ich erlebe die Mennoniten offener als früher und gern bereit, ihre Einrichtungen zu zeigen. Wir besuchen die Hauptstraße mit Supermarkt und Geschäften, das Colegio Mennonita, Lehrerseminar, Bücherei - und überlassen uns dem Beobachten des geschäftigen Freitagnachmittagtreibens all der Indigenen, der Mennoniten, der Paraguayer und „Lateinparaguayer“, wie die Mennoniten die Mestizen nennen, als seien sie nicht allesamt nur eins - Paraguayer!
Nachmittags besuchen wir das Internat „Rayito de Luz“ (Lichtblick)
Im „Rayito de Luz“, Internat für gehörlose Kinder und Jugendliche, ist auch Maria Josefina seit fast einem Jahr untergebracht. Die Reisegruppe der PPI hatte das gehörlose Mädchen in den „Bañados Sur“ in Asunción kennen gelernt, wo sie in einer elenden Bude mit einer Handvoll Geschwistern und einer gleichgültigen Mutter lebt. Ihre Behinderung interessiert niemanden, eine auch nur minimale Betreuung gibt es für Maria Josefina nicht - im Gegenteil wird ihr die Behinderung noch zur zusätzlichen Bedrohung, weil sie oft Übergriffen ausgesetzt ist. Als die Reisegruppe sie sieht, war sie gerade in der Nacht zuvor von einem Cousin vergewaltigt worden, niemand kann sagen, ob es das erste Mal war. Wir sind erschüttert, spontan entsteht der Plan, Josefina nach Filadelfia ins Rayito de Luz zu vermitteln, ein Reiseteilnehmer und die Gruppe würde die Kosten übernehmen.
Ein Jahr später erleben Anna, Dom und ich eine lebendig und fröhlich wirkende, lernbegierige Maria Josefina, die sich so herzlich und erwartungsvoll an uns wendet, als wisse sie genau, dass unser Besuch ihr gilt. Erzieherin Jessica und Internatsleiterin Helga Dück berichten von ihren Lernerfolgen, deren Zeuge wir alsbald werden. Maria Josefina kann lesen, schreiben und sie beherrscht die Gebärdensprache, die sie uns enthusiastisch vorführt. Einige Zeichen lernen wir mit. Wir sind berührt von diesem wie verwandelten Mädchen, das hier von kompetenten und liebevollen Betreuerinnen auf ein anderes Leben vorbereitet wird als das, welches unausweichlich vorgegeben schien.
Abends kommt der sympathische mennonitische Touranbieter von „Gran Chaco Turismo“ , Herr Epp, und wir besprechen die Einzelheiten der gemeinsamen Fahrt, die Sonntag Morgen beginnen soll. Er scheint selber große Lust zu haben. Schöne Überraschung: Norbert, wie wir ihn inzwischen nennen, lässt sich von uns so anstecken, dass er die ganze Tour mitmachen will - bis Fuerte Olimpo, wo wir statt in Bahia Negra das Schiff nach Concepción nehmen wollen.
Ein großes Glück: Verena Regehr, Anthropologin und leidenschaftliche Anwältin der Interessen indigener Gruppen im Chaco, vor allem der Ayoreo, hat Zeit für uns und kommt zu Besuch aus Neuland ins Hotel Florida. Das mennonitische Hotel Florida in Filadelfia ist nicht unbedingt ihr „Territorium“, die meisten teilen nicht ihre Vorstellungen über den Umgang mit der indigenen Urbevölkerung. Umgekehrt sieht Frau Regehr in so manchem Verhalten der Mennoniten gegenüber ihren indianischen „Mitbürgern“ Kritikwürdiges, was sie auch deutlich ausspricht. Sie würde ihnen im günstigeren Fall wohl eine paternalistische Haltung vorwerfen. Verena hat einen indigenen Mann geheiratet, einen Ayoreo, wenn sie darüber spricht, wirkt sie sehr zufrieden. ihren Mann kennt sie seit vielen Jahren, spricht schon lange seine Sprache. Ihr Ansehen bei vielen Mennoniten wird sie aber auch damit nicht unbedingt gesteigert haben.
Sie beschreibt uns die Hochzeit nach Ayoreobrauch, der zum Beispiel keine besonderen Einladungen vorsieht, gleichwohl alle willkommen heißt, die teilnehmen wollen. Die 1500 Personen, die zu ihrer Hochzeit erschienen, haben sie dennoch überrascht. Es muss eine großartige Feier geworden sein, die da abgehalten wurde, vom Nachmittag bis spät in die Nacht. Ich dachte, da haben sich die indianische Tradition des Teilens und die christliche Wundergeschichte verbunden: Alle wurden satt, Verenas Sorge um das leibliche Wohl der Hochzeitsgesellschaft aus zwei Kulturen war gänzlich unbegründet. Als wir mit ihr nach Neuland fahren, eine halbe Autostunde von Filadelfia, habe ich die heimliche Hoffnung, ihren Mann kennen zu lernen, aber der Indigene vor ihrem Haus war nur der Gärtner, wobei dieser Beruf so gar nicht zu passen scheint in diesem Jahr, in dem extreme Dürre den Chaco seit fünf Monaten im Griff hält, und so verteilte der gute Mann auch eher Staub und Sand, fegte dürres Laub zusammen, und das einzig Farbige, das an Garten erinnerte, war eine Orchidee. Überhaupt ist der Chaco in diesem Jahr so ausgedorrt und grau in grau, wie ich es noch nie erlebt habe, nur die Algarrobobäume treiben schüchternes Grün aus - pünktlich zum Frühlingsbeginn.
Die lange Trockenheit hat immerhin dafür gesorgt, dass alle Straßen im Chaco (und später im Departament Alto Paraguay) befahrbar sind. Gelegentliche Stopps dienen mehr dem Fotografieren und der Beingymnastik als dem Schöpfen „frischer Luft“, denn die Temperaturen bewegen sich während unserer gesamten Reise verlässlich zwischen 42 und 45 Grad. Ohne besonders zu schwitzen, ist die Verdunstung am ganzen Körper gleichwohl enorm hoch, erst recht beim gefürchteten glühenden Nordwind. Es ist also hier besonders notwendig, beständig „nachzugießen“. Die mehr recht als schlecht funktionierende Klimaanlage lockt uns trotz des Bedürfnisses, uns zu bewegen, immer wieder schnell ins Auto - und Dominik muss hier mit Schelte rechnen, weil er die Wagentüre nicht geschlossen hat.
Hunderte Kilometer auf schnurgeraden Pisten - die Karte verspricht nichts anderes, Ortsnamen sucht man auf ihr vergebens, nur die Namen der größeren Estancias sind eingetragen. Auch weit entfernt von den mennonitischen Siedlungen haben sich die plattdeutsch sprechenden Chacopioniere große Stücke Land gesichert, nicht selten aber auch Deutsche oder Schweizer - und immer mehr Brasilianer!! Die grüne Fläche oben auf der Karte, der wir uns nun nähern, ist einer der größten Nationalparks, während der Amtszeit Stroessners wohl nur deshalb so üppig eingerichtet, weil Land unerschöpflich schien. Inzwischen wird auch in Nationalparks nach Kräften geräubert, „Defensores del Chaco“ bleibt wegen seiner extremen Lage und aufgrund seiner Lebensfeindlichkeit (noch) verschont. Die Wege im Nationalpark werden nun schmaler, gespannt erwarten wir den Anblick des „Cerro León“, Löwenberg, der aus einer Riesenebene bis zu 500 m aufragen soll. Wird bei dem Dunst überhaupt viel davon zu sehen sein?
Doch da taucht er auf, eine Bergkette eher als ein Berg, bedeckt mit noch wintergrauem, von der Dürre gezeichnetem Bewuchs, nur ein paar grüne Algarrobos im Vordergrund. Unendlich weites Land. 80000 ha groß ist allein das Gebiet des Cerro Leon. Es ist praktisch undurchdringlich - nur 90% sind bisher erkundet. Und ausgerechnet an dieser Stelle hält sich auch gerade der legendäre Chacokenner Don Silvino (vorn im Bild) auf, Epp kennt ihn, auch den Biologen im Hintergrund. Sofort beginnt das Chacofachsimpeln, und als wir zuhören, folgen die (wahren) Räuberpistolen, an denen es wahrlich nicht mangelt.
Viele haben den Chaco nicht überlebt:
Nicht die Tausende bolivianischer und paraguayischer Soldaten im furchtbaren Chacokrieg 1935 bis 40, nicht die vielen Mennoniten der ersten Siedlungsjahre, nicht die Indianer, die an den Krankheiten derer starben, die ihre Seelen retten wollten, und nicht die vielen Abenteurer und Drogenpiloten, die den Chaco unterschätzten. Das geschehe bis heute, so Don Silvino, auch er, der den Chaco seit 35Jahren durchstreift, sei öfters nur knapp dem Tode entgangen, einmal hat ihn fast ein Tiger zerrissen. „Der Chaco ist wie ein Labyrinth, aus dem man kaum heraus findet, wenn man sich einmal verlaufen hat, nur der Sonnenstand kann vielleicht Orientierung geben, aber man ist schnell verdurstet. Einmal war auch ich in der Falle, ich kam heraus, weil ich nur nachts gelaufen bin, tagsüber keinen Schritt, so konnte ich den Flüssigkeitsverlust in Grenzen halten, das hat mir das Leben gerettet.“
Einige bislang vollkommen unkontaktierte Ayoreogruppen sollen sich in diesem Gebiet noch aufhalten, so auch Verena Regehr, an deren Glaubwürdigkeit wir nicht zweifeln. Es hört sich vielleicht verrückt an, aber diese reale Möglichkeit der Existenz „wilder“ Ayoreo begleitet uns bei unseren Erkundungen. Gleichzeitig ist uns bewusst, in einer der am dünnsten besiedelten Weltgegenden zu sein (Nie waren wir von weniger Menschen umgeben...)
Silvino führt einen bekannten Naturfilmer, ihr Standort an einer der wenigen Lagunen, die noch Wasser führen, war genau richtig: „Er hat alles im Kasten was er wollte, Tiger, einen Leoparden, Tapire, zwei Riesengürteltiere, den großen Ameisenbären und was weiß ich noch ..“
Wir werden blass vor Neid, Norbert dämpft vorsichtshalber unsere Erwartungen. Wenigstens können wir aber an diesem guten Platz die Zelte aufschlagen, da der Kameramann abzieht. Eine Sternen- und Vollmondnacht (nur der Vollmond mindert ein wenig die überwältigende Pracht des nächtlichen Chacohimmels) auf hartem Zeltboden, unbekannte Geräusche, Mengen vor uns auffliegender riesiger Heuschrecken, Mosquitos und Zecken, ein unbekanntes Insekt, das sich in meinen Hals verbeißen will - auch wir können uns über einen Mangel an (kleinen) Tierchen nicht beklagen ..... Ich finde, mein altmodischer Koffer macht sich ganz gut in dieser Umgebung . Norbert kocht uns einen leckeren Eintopf, das Fleisch stammt von einer seiner Kühe, die er am Vortag auf offenem Kamp geschlachtet hatte. Vielleicht ist es besser, dass wir sein Foto erst später sehen. Der Tag beginnt mit einem faszinierenden Blick auf die halb ausgetrocknete Lagune, wo Enten und Reiher, aber auch zwei Rothälse ihre Nahrung suchen - hoffentlich bessere als unsere aus trockenem Brot und flüssiger Marmelade von Guaven.
Auf der Wanderung sehen wir mehr Tierspuren als deren Urheber.... Jeder findet aberetwas ..... Dom findet immerhin einen Tapirschädel. Ich begnüge mich mit einem Haufen Kot eines in unserer Fantasie mächtigen Tigers.
Lebende Tiere findet Dom bei mir, nämlich Zecken, die er meisterlich entfernt. Sie jucken noch nach 1 Woche. Anna findet Apfelsinen, die sie zum Auslutschen schält - eine Wohltat. Tigerspuren sehen wir zuhauf - besser vielleicht, dass es dabei bleibt..... Jetzt fliegt auch der Rothals noch davon
Bei dem heftigen und heißen Nordwind brechen sich unsere Zelte fast von alleine ab, Dom kann seins gleichsam in der Luft zusammen falten..... Den Reihern scheint der Wind nichts auszumachen, auch nicht den Flamingos, die ein allzu kurzes Gastspiel geben. Wir lassen uns das letzte Frühstück am Cerro Leon nicht nehmen, mit Nescafé als höchster Wonne, mit Brot, das sich inzwischen der staubigen Konsistenz des Chaco angenähert hatte. Wasser ist die Hauptnahrung - 10 Liter pro Tag? Bestimmt. Die deutsche Camperseele verlangt, wie man sieht, auch im wilden Chaco nach ihrem Recht - und so könnte das Frühstücksfoto ja auch am Niederrhein entstanden sein, wo es im übrigen ja auch meistens keine Tiger zu sehen gibt....
Anna hat unruhig geschlafen, die ungewohnten Geräusche wirken mehr aufs Gemüt als man wahr haben will. Vor allem die etwas unheimlichen Schreie des chahá waren zusätzlich aufgeladen durch Norberts Erläuterungen am Vorabend: „Chahá heißt auf guaraní ´Lasst uns gehen´, der Vogel hat diesen Namen, weil er Menschen oder große Tiere in der Umgebung ´meldet´ .....“ Mit diesem so fremden Cerro Leon im Rücken, mit der unheimlichen, nächtlichen Lagune vor uns - erstaunlich, was die Fantasie in der Nacht produziert ..... „Norbert, unser Führer, weise du uns den Weg ....“ An kräftezehrenden Umwegen hat es nicht gemangelt, allein der Tiger wollte sich nicht zeigen, auch nicht bei unserem letzten Versuch. Hier aber wenigstens ein geklauter Ameisenbär .... ....sowie ein Beispiel unserer Eigenaufnahmen - wenn schon keine Tiere zu fotografieren waren .....
Norbert passt jetzt auf, nicht über Dornengestrüpp zu fahren: Hier hat jeder Strauch und jeder Baum Dornen, bis zu 10 cm lang und hart wie Metall, kein Reifen hält ihnen stand.
Es geht staubig weiter Richtung Madrejón, wo wir zwei Sorten Wasser kennen lernen: Abgestandenes, nach verwesten Kadavern stinkendes, das den Wasserhähnen in zwei Aggregatzuständen entströmte, als Brühe sowie als Pesthauch. Hierbei kam mir meine Riechschwäche zugute, war ich doch der einzige, der mit dieser Flüssigkeit duschte.. Zisternenwasser aber gab es auch, welches sich hier gerade ein „trockener“ estanciero mit einem großen Tank von der Nationalparkstation Madrejón ausleiht, er überlässt uns freundlicherweise - selber ein Beschenkter - die Restmenge aus dem mächtigen Schlauch.... und schaut diesem Fest aus Nässe und Kühle interessiert zu.
Gesetz des Chaco, besonders beim Wasser: Wer anderen nicht aushilft, dem ist irgendwann selber nicht mehr zu helfen. Die großen Zisternen befanden sich übrigens an einem vor wenigen Jahren hier für biologische Forschungen errichteten, erstaunlich modernen Komplex, der allerdings nur noch als bröckelndes Gebilde existierte, wie so oft in Paraguay. Wir löschten wieder einmal das Bild von der aufgeschlitzten Kuh aus unserem Gedächtnis, als Norbert uns abends Stücke ihres Körpers grillt, die in keine Pfanne gepasst hätten. In der Nationalparkstation konnten wir immerhin auf einfachen Pritschen und auf Norberts Bettlaken übernachten - ab 22 Uhr schmoren, als der Generator mit lautem Röcheln erstarb .....
Zum Übergang von einem departamento zum anderen - hier von Boquerón nach Alto Paraguay - gehört natürlich Militär. Deren Vertreter lösen bei mir immer noch die alten Reflexe aus: Nicht zu viel Geld parat haben, dafür eine Story mit „Deutsche Botschaft“ im Petto, sofort mit Einschleimen los legen ...... Aber siehe da, selbst hier im letzten Winkel des Vaterlandes war ein Hauch von Demokratie zu spüren, in Gestalt dieses kompakten coronel, der bei seinem endlosen Geschichtenerzählen sogar vergaß, unsere Pässe zu überprüfen. Wir waren einsichtig und sagten uns: „Der Mann vereinsamt hier, seine Untergebenen verstehen seine filigranen Geschichten und seinen außergewöhn- lichen Humor nicht, hier kommt sonst kaum einer vorbei - tun wir ihm als den Gefallen und stellen uns vor, es sei eine Dichterlesung bei 42 Grad ......“ Tanken geht hier oben so. Norbert brauchte einige Mentholdrops, um den Dieselgeschmack vom Ansaugen los zu werden. Einen Rest Diesel lässt er lieber in der Tonne, zu oft hat er sich damit seinen Filter verstopft. Pro Liter 20% Aufschlag, wenn die Tankwagen nicht durch kommen, gibt es gar nichts, es sei denn man ist nahe am Rio Paraguay, wo das einzige Transportschiff ein paar Fässer flussaufwärts geschippert hat. Vielleicht sogar bis Bahia Negra, schwarze Bucht, die nördlichste Stadt des Landes, unser heutiges Ziel.
Den Willkommensgruß an dem Uferabschnitt des Rio Paraguay, der großzügigerweise mit „Hafen“ bezeichnet wird, kann man eigentlich nur als schwarzen Humor verstehen. Man wüsste nur zu gern, wozu man willkommen geheißen wird. Das Hotel „Amigos de la Naturaleza“ kann es wohl nicht sein, wo wir absteigen, genauer aufsteigen, unser Achtbettraum ruht auf Pfählen und ist über eine abenteuerliche Treppe zu erreichen, die nur von der schwindelfreien Tochter des Hauses mit einer Anmut erklommen wird, die uns alt aussehen lässt. Doch wir wollen gerecht sein, wir fühlten uns bald wohl im Pfahlbau, in der Gegend hätte es ohnehin auch ein halber Stern getan ...... Von der Holzveranda auf den dunklen Paraguayfluss schauen, ist Reiz genug, und die Sterne am Himmel ersetzen jeden Hotelstern. Bahia Negra ist auch das „Nördlichste Tor zum paraguayischen Pantanal“ - dieses riesige Überschwemmungsgebiet, dessen größter Teil auf brasilianischen Boden liegt (der während acht Monaten im Jahr aus Wasser besteht, das unendlich langsam zum Rio Paraguay hin abfließt), und dessen Fauna und Flora überreich und schier unerschöpflich sind. Während die Brasilianer „ihren“ Pantanal als touristisches Ziel der Extraklasse längst vermarkten, grüßt Paraguay die wenigen Besucher wie auf dem Schild oben, das hat seinen Charme, verlangt aber von uns, wahre „amigos de la naturaleza“ zu sein, denen ein Begriff wie „touristische Infrastruktur“ eher den Spaß verdirbt. In Madrejón hatten wir uns vorsichtshalber schon einmal ein Video einer amerikanischen Naturfilmerin angeschaut und heimlich auf mein Notebook geladen, um uns wenigstens die Fauna jederzeit auf den Bildschirm holen zu können - denn wir hatten ja gelernt: die Ameisenbären sind meistens gestern, der Tiger ist morgen, und Tapire gibt es nur als Skelett .....
Doch halt - nicht zu früh aufgegeben, da ist schon der erste caiman, immerhinque. Eine Art Haustier, Menschen, auch deutsche, sind ihm schnuppe. Mit Bootsführer Garcia fahren wir jetzt hinaus auf den Rio Negro, als Senior darf ich vorn sitzen, mit Tarnfarben – Schwimmweste, um die Tiere zu täuschen.... Unzählige Vögel, Tukane, Papageien, Störche, Eisvögel - und ein erster Reiher im Tiefflug. Ich bewundere schon nach kurzer Zeit den Bootsführer, der stundenlang im Boot hockt und vermutlich eine Hornhaut an dem Körperteil hat, der mir langsam abstirbt. Hätten wir doch mit dem Stützband der Ayoreo auch das Sitzen auf Stuhl oder Bank geübt!
Eine Delegation von Kormoranen hat sich ordentlich auf einem Palmenstamm postiert - es wird jetzt einsamer und wir erleben die Natur intensiver. Ein nutria, ein Sumpfbiber von fast Seelöwenformat, rutscht mit fünf Jungen die Uferböschung hinunter, Caimane verschwinden mit unvermitteltem Schwung im Wasser, carpinchos, Wasserschweine, halten ihre Köpfe über Wasser und beobachten uns - vielleicht bilden wir uns das aber auch nur ein ....
Garcia erzählt derweil seine Geschichten .... .....(hier reißt der Tiger gerade dem Rind das Maul weg) so lebhaft, dass unser leichtes Aluminiumboot wackelt. Zwei Stunden bis zum Beobachtungsstützpunkt, an einer Flussbiegung auf einer Anhöhe gelegen, mit kühlendem Wind, kaltem Bier und Baden im Rio Negro. Nein, keine Piranhas!
Nach Bad und Siesta fahren wir noch ein ganzes Stück den schmaler werdenden Rio Negro hinauf, als Belohnung sehen wir eine cierva, eine Sumpfhirschkuh, die, ihrem Namen und Geschlecht treu, ohne Geweih in modrigem Ufergrund steckt und äst. Ihre Ohren sind ganz auf uns ausgerichtet, als wolle sie unsere leisen deutschen Laute aufnehmen. Wir sind fasziniert. Drei „pitehué“ picken aus ihrem Fell. Meine Zeckenstiche jucken auf einmal .....
Lange Rückfahrt - schön ist es, im Boot zu schlafen. Wir genießen noch den Charme der einzigen Dorfstraße, um 18 Uhr geht das (Tages-)licht in Paraguay aus, die neuen „amigos de la naturaleza“ gehen schlafen, vorher wie immer rituelle Jagd auf Mosquitos. Unterm Fenster fahren Boote vorbei. In der Despensa Maria José gibt es noch abgelaufenen Joghurt, der aber kalt ist.
Weiterfahrt nach Fuerte Olimpo bei brütender Hitze und in eintöniger, milchig eingetrübter Landschaft, die durch die schnurgerade Straße keineswegs attraktiver wird. Das Pferd steht wie fest gebacken auf dem Lehm.
Über drei Stunden kein Haus, kein Mensch, kein Fahrzeug - was macht man eigentlich, wenn man hier stehen bleibt? Genau das tun wir freiwillig. Diese relativ neue Brücke führt über ein staubiges Flussbett, das vielleicht nur einmal im Jahr, nach einem kräftigen Regen, Wasser führt, jetzt aber wie ein Phantom wirkt. Trotzdem wird es feuchter im departamento Alto Paraguay, die Flussnähe macht sich bemerkbar. Abzweig nach Fuerte Olimpo. Wie muss eine Stadt aussehen, zu der ein solcher Wegweiser führt?
Aber Fuerte Olimpo liegt doch am Rio Paraguay! Da wird es sicher noch grüner sein und freundlicher. Und außerdem erreichen die meisten Menschen ihre am Paraguayfluss gelegenen Orte ja auch nicht über den Landweg, sondern -- mit dem Schiff! Wir selber haben vor, Fuerte Olimpo per Schiff zu verlassen, am Freitag soll es gegen 10 Uhr morgens in Bahia Negra ablegen und seine wöchentliche einmalige Fahrt zurück (und flussabwärts) nach Concepción machen. Wenn nur dieses „soll“ nicht wäre! Allenthalben „soll“ in Py etwas stattfinden, abfahren, passiert sein - ein „muss“ gibt es nicht, nicht mal ein „wird“ muss sein, ein „soll“ muss reichen .... Ach ja, auf dem Schiff brauchen wir für die zwei Nächte eine Hängematte, und da vorne, nicht zu glauben, taucht jetzt die erste menschliche Behausung auf. Mit Hängematten! Zum Verkauf!
Anna und Dom suchen zwei aus, sie haben schon eine Schiffsreise in Paraguay hinter sich, und ihre Vorfreude scheint sich in Grenzen zu halten. Aber wir fahren ja mit der „Aquidabán“, dem legendären einzigen Transport - und Passagierschiff, das diese nördliche Landesecke überhaupt „bedient“ neben den riesigen, überlangen Schubschiffen, die mit ihrer Sojalast den breiten Strom - flussabwärts zwar, aber nicht minder träge - befahren.
In Bahia Negra hatten wir sie schon gesehen, wenn sie beinahe lautlos an unserer Pension vorbeifuhren - zweihundertfünfzig Meter lang und von einem winzigen Boot ange“schub“st. Fünf Tage und fünf Nächte bis zum Freihafen Paranaguá an der brasilianischen Atlantikküste - und dann ab nach Europa.
In Gedanken waren wir also schon zurück am Wasser, am Fluss... .... und ein paar Stunden später saßen wir dann auch wirklich auf der Terrasse eines anderen Stelzenhotels „Puerta Pantanal“ in Fuerte Olimpo und schauten auf den Fluss, aus dem der Besitzer gerade eben ein paar stattliche Fische fürs Abendessen geangelt hatte. In Fuerte Olimpo befinden wir uns immerhin noch rund 800 km nördlich von Asunción. Die kleine Hauptstadt des Departamento Alto Paraguay liegt mit ihren paar Häusern und den knapp 1000 E eingebettet zwischen dem Rio Paraguay und zwei sanften Hügeln, die ein Stück weiter von drei etwas höheren Bergen ergänzt werden, dem „Cerro Tres Hermanos“. Bei Sonnenschein macht Fuerte Olimpo sicher einen besseren Eindruck..
Aber Fuerte Olimpo hat zwei Bauwerke, auf die es stolz ist: Einem verdankt es seinen Namen, nämlich der 1792 von den Spaniern erbauten und nach der Königsfamilie benannten Festung Fuerte Borbón, deren dunkle Steinquader ein wenig Geschichte transportieren, aber an diesem grauen Tag ebenso triste wirken wie der arg eingetrübte Blick auf die Flusslandschaft. Das andere Bauwerk ist neueren Datums, die „´Kathedrale´ Maria Auxiliadora“, in der heute Abend eine besondere Messe gefeiert wird, denn heute ist Jahrestag der Stadtgründung. Die Messe wird vom päpstlichen Nuntius gehalten, der aus Asunción angeflogen kam. Mit dem Flugzeug des Präsidenten Lugo. Es war allerdings sein Vorgänger, der Lugo mit aller Macht an der Übernahme der Staatsmacht hindern wollte. Im Namen des Papstes. Die Jugendlichen warten auf ihren kirchlich – folkloristischen Auftritt, das Theologenchinesisch des Nuntius´ sagt ihnen ohnehin absolutamente nada! Dafür höre ich zu. Unglaublich, wie der Mann, ebenso wie vorher der Bischof von Alto Paraguay, an den Leuten vorbei und über sie hinweg redet.
Auf sie warten - für manchen Messebesucher sichtliche Erlösung im doppelten Sinn - Brot, Wein und Trauben. Garniert mit der Flagge Paraguays.
Am nächsten Morgen strenges Üben für den Aufmarsch zum „Anniversario de FO“ Die Krankenschwester tut sich in jeder Hinsicht hervor. Die „Aquidaban“ legt auf ihrer Fahrt nach Bahia Negra einigermaßen pünktlich am kleinen betonierten Hafenkai an, wir können für ihre (und unsere) Rückfahrt, auf der sie uns flussabwärts nach Concepción mitnehmen soll, also durchaus hoffen. Der ganze Ort wird lebendig und strömt zum Hafen, wenn einmal in der Woche das Schiff anlegt, die große Abwechslung im Wocheneinerlei, die Verbindung zum Rest des Landes, der Lieferant einigermaßen frischer Waren, von Obst und Gemüse. Auch wir lassen uns anstecken, kaufen und genießen Bananen und Äpfel. Ich bestelle für die Rückfahrt eine Kabine. Dom und Anna ziehen die Hängematte und die geringeren Kosten vor. Wir ahnen noch nicht, dass alles ganz anders kommt. Das große Laden und Entladen beginnt.
Es macht Spaß, Jung (w) und Alt (m) zu beobachten beim Erzählen und Arbeiten, das eine ganz entspannt, das andere in aller Eile, da die Zeit bis zum Ablegen des Schiffes drängt. In unserer Pension hat auch die Crew des Präsidentenflugzeuges übernachtet - nicht ohne am Vorabend kräftig gezecht zu haben. Als Kommandant Ortiz uns fragt, ob wir nicht am nächsten Morgen mitfliegen wollen nach Asunción (er habe einen „Leerflug“), müssen wir wohl recht ungläubig erst ihn und dann die leeren Bierdosen angeschaut haben, denn er bekräftigt seine Einladung. Er meint es ernst! Wir verhandeln - unter uns! Ergebnis: Ich fliege allein mit, Pilot Benítez, sein copiloto und der mecánico gehen am Morgen ohne Probleme die steile Treppe hinunter.
Vorher hieß es Abschied nehmen von meinen beiden Reisebegleitern, denen ich meine Kabine überließ. Diese vermeintliche Großzügigkeit erwies sich als trügerisch: Als die beiden mir später über ihre Reise mit der Aquidabán berichteten, ging es vorwiegend um Enge, Gestank und Kakerlaken. Und um Besoffene aller Sorten - Ortiz ist ein Waisenknabe gegen sie ...... Ich mache noch eine Morgenrunde. Komisch, das Wetter ist nicht besser, der Ort und die Umgebung sind nicht anders geworden - und dennoch finde ich jetzt, beim nahenden Abschied, alles viel liebenswerter. Und das gilt für die ganze Reise in diesen spröden Chaco.
Die Wäscherin ist schon seit 6 Uhr am Fluss, der junge Mann ruht sich von der Nacht aus - und wenn schon die Natur noch geizt mit ihren Farben, so hat es dieser Hausbesitzer bestimmt nicht getan ..... Die drei Flieger haben mich nicht vergessen, es ist später geworden als geplant, zusammen fahren wir zum Flughafen, der hinter einem der drei Hügel verborgen liegt. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was mich erwartet, glaube auch irgendwie das Ganze noch nicht recht. Das Flughafengebäude hatte ich nicht größer erwartet, die Piste mir so ähnlich vorgestellt - nicht aber, dass dort so ein großes Flugzeug abgestellt ist, bewacht von einem jungen Soldaten, der „Keine Vorkommnisse“ meldet. Er scheint mich für eine Persönlichkeit zu halten, die ein Tragen des Koffers nahe legt. Ich will das erst verhindern, weil es mir peinlich ist, aber dann siegt der Spaß an diesem skurrilen Bild, wie meine Uraltkoffer zum Flieger getragen wird, als sei es Staatsgepäck .....
Die Maschine der „Fuerza Aérea Paraguaya“ wird jetzt genau von außen untersucht, innen wiederholt sich die Prozedur technisch - so lange, dass ich schon anfange zu grübeln, ob meine Entscheidung richtig war. Welcher Unsinn, es sind ja tatsächlich Maschine und Pilot des Präsidenten! Nicht zu glauben aber wahr,wir sind eben in Paraguay! Bald heben wir krachend, schaukelnd und Staub aufwirbelnd von der Piste ab, die drei im offenen Cockpit scheinen die Maschine irgendwie gemeinsam zu steuern, manchmal sehe ich ihre Hände gleichzeitig auf der Instrumententafel. Die einzige Verständigung (außer bei den Dreien über Funk) geht mit mir nur per ausgestreckten O.K.-Daumen. Schon überfliegen wir den Rio Paraguay, vor dessen Wassern Fuerte Olimpo sich mit einem Deich schützt. Die drei Männer (li der Pilot, Mi der Techniker, re der Kopilot) scheinen Spaß zu haben - der einzige Passagier wird hin und wieder mit aufmunternden Blicken bedacht. Mir ist Kopilot Benítez ausgesprochen sympathisch, ich werde ihn später in der Flugbereitschaft besuchen. Eineinhalb Stunden Flugzeit nach Asunción gegenüber zweieinhalb Tagen per Schiff und Bus: Aber ich fühle mich keineswegs so, als habe ich den besseren Teil erwählt, im Gegenteil bin ich fast ein wenig enttäuscht, so schnell und auf moderne Weise in der Hauptstadt angekommen zu sein. Wie aus einer anderen Welt, die ich schon wieder ein wenig vermisse.
Als ich später von der Aquidaban höre, sehe ich das wieder anders. „Chiao, Benítez, du willst 2011 nach Deutschland, komm´ uns besuchen!“